Tahra & Dzintra
Jelgava, Januar 2024
“ {…} ‚Vielleicht bedeutet es, dass bei einem Pluralismus einige Parteien sagen, dass Gott existiert, und andere, dass er nicht existiert, und dass derjenige, der die Wahl gewinnt, entscheidet, was richtig ist‘. überlegte Elona. {…}
‘Wir sind jetzt frei. Jeder kann sagen, was er will.‘ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. ‚ Dann müssten sie Dinge wie Weihnachten und Silvester absagen und wieder einführen, je nachdem, wer die Wahlen gewinnt.'{…}“.
In diesem Zitat aus dem Buch “Free” von Lea Ypi sprechen die junge Lea und ihre Schulkameradin über den zerfallenen Sozialismus in Albanien und die anstehenden freien Wahlen.
Am 2. Januar 2024 schalte ich mich online mit Tahra und Dzintra. Ich bin in Lesce, Slowenien, und sie sind in Jelgava, Lettland. Sie haben am 30. Dezember den 76. Geburtstag von Dzintra gefeiert und sind am 31.Dezember gemeinsam ins neue Jahr gestartet. An diesem zweiten Jahrestag im gregorianischer Kalender sitzen beide im Wohnzimmer von Dzintra mit im Hintergrund ein großes Bücherregal, das sich über zwei Wände erstreckt.
Tahra ist 17 Jahre alt, nicht-binär. Ihre Oma Dzintra nennt sie weiterhin mit ihrem Geburtsnamen. Trotzdem verstehen sich beide gut. Tahra ist 2006 geboren. Zwei Jahre nachdem Lettland der EU beigetreten ist, 15 Jahre nachdem Lettland ihre Unabhängigkeit von dem sowjetischen Block errungen hat und 4 Jahre nachdem Lettland das erste und einzige Mal den Eurovision Song Contest gewonnen haben.
“Seit drei Monaten werde ich in einer Online-Schule unterrichtet. Die Schule in Präsenz hat für mich nicht mehr gepasst, ich brauchte mehr Zeit alleine. Nächstes Jahr mache ich mein Abschluss, mal schauen was ich danach machen werde. Das Unterricht findet, wie es für alle während Corona war, auf einer Online-Plattform statt. Ich habe wenige meiner Lehrer*innen live gesehen. Aber letztes Jahr war ich Teil einer Geschichte-Olympiade. Dort habe ich einige zum ersten Mal getroffen. Mit 14 Jahren hatte ich eine Depression und ich erhole mich weiterhin davon, es nicht noch nicht komplett weg. Ich glaube, das ist auch wichtig zu erwähnen für das Interview.” erzählt Tahra zur Einleitung.
Ich bin mit Tahra durch Freunde von Freunden in Kontakt gekommen, die mit Tahra ehrenamtlich bei Papardes zieds ‚The Blossom of the Fern‘ arbeiten. Papardes zieds ist eine Organisation, die sich für qualitativ hochwertige Aufklärung über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte in Lettland einsetzt. Tahra ist hauptsächlich für die Online-Präsenz ihrer jugendlichen Freiwilligen auf Instagram verantwortlich. „Die Präsenz war nicht selbstverständlich, wir haben dafür gekämpft“, fügt Tahra hinzu. Die Organisation erhält weiterhin Hass und Hetze.
Dzintra ist scheu und zeigt erst ihr Gesicht nicht. Ich sehe erst nur die blauen Ärmel ihrer Strickjacke. Ich höre ihre Stimme. Sie spricht sehr gutes Englisch. “Ich habe Englisch in der Schule gelernt. Mein Lehrer war sehr schön, ich wollte ihn beeindrucken!” sagt Dzintra lachend, versteckt in der rechten Ecke des Bildschirms. „Ich habe versucht, Deutsch zu lernen, aber als wir beschlossen, nach Deutschland zu gehen, hat mich niemand verstanden und ich habe sie nicht verstanden! Ich reiste 1989 nach Ost-Berlin, die Mauer stand noch als wir dort waren. Kurz nachdem wir zurück gekehrt waren, fiel die Mauer. Das war schon was!” Tahra ruft ein überraschtes „Oooh“ aus. Sie hatte noch nie von dieser Reise gehört.
Dzintra war 1964, 17 Jahre alt. „Ich habe in der Sowjetunion gelebt. Ich ging zur Schule. Es war eine gewöhnliche Schule. In meinem engen Familienkreis waren keine Dissidenten, also war das Leben ziemlich ruhig. Zu Hause haben wir uns schon über die sowjetische Politik lustig gemacht, aber nicht in der Schule oder im öffentlichen Raum. Da hätte es Ärger gegeben. Mehrere Verwandte meiner entfernten Familie sind in die USA ausgewandert. Einer meiner Cousins war Pastor und ist ausgewandert.” Dzintra hat 37 Jahre lang in einem Chor gesungen, bis sie 62 Jahre alt war. Die Enkelin und die Großmutter singen gerne zusammen. “Können wir dir was vorsingen?” fragt Tahra. Und so stimmen beide kur tu skriesi vanadziņi ein, ein lettisches Volkslied:
Wohin wollt ihr fliehen, ihr Habichte?
Mit diesen Wachsflügeln?
Ich werde laufen, umgeben von Linden,
Ist sie groß geworden?
Ziemlich groß, ziemlich buschig,
Die Zweige haken sich in die Daugava.
Junge Töchter schwatzen,
brachen die Zweige der Linde ab.
Meine Lindenzweige sind weg,
Auf der Daugava, sie sind in einem Traum.
Abwandlung:
Die Zweige der Linde sind abgebrochen,
in die Daugava geworfen.
Sie fuhren die Daugava hinunter,
und werfen Seifenblasen.
Sie treffen die Fischer auf dem Meer,
Sie nahmen ein kleines Boot.
Tahra erzählt : “Mit lettischen Volksliedern fühle ich mich kraftvoll. Die lettische Sprache wurde oft unterdrückt, so dass die Musik sehr metaphorisch ist. Sie handelt von Tieren und Pflanzen, um starke Gefühle auszudrücken.”Alle 5 Jahre findet in Lettland ein großes Sing- und Tanzfestival statt: Vispārējie Latviešu Dziesmu un Deju svētki.
Ich frage Dzintra, ob es in ihrer Jugend etwas Besonderes gab. “Nein, nicht wirklich. Ich war wie alle anderen bei den Komjaunatne. Die Pioniere war die Gruppe für Kinder und die Komjaunatne die Gruppe für ältere Jugendlichen. Man musste aber dort nichts machen, nur die, die wollten, konnten sich einbringen. Ich war natürlich Teil davon, aber habe nicht viel gemacht.” Die Schul- und weiterführende Ausbildung von Dzintra war auf Lettisch. „Ich habe ein wenig studiert, aber als ich verliebt und verheiratet war, habe ich angefangen zu arbeiten.“ Dzintra hat 41 Jahre in einem Architektenbüro gearbeitet. “Ich hatte eine gute Arbeit.”
Etwas später im Gespräch teilt Tahra, warum sie so viele Emotionen hat, wenn sie an die Ukraine denkt. “Im Allgemeinen fühle ich sehr viel. Wir haben aber auch in der Schule viel über die Sowjetunion und all die schlimmen Dinge gelernt, die damals passiert sind.. Es ist deprimierend. Das Generationentrauma ist sichtbar in Lettland.” sie überlegt noch eine Weile und sagt: “die Geschichten aus der Kindheit, der Großeltern hier, macht die ukrainische situation noch realer.“
Lettland hat 1,8 Millionen Einwohner. Jeglava, wo sich Tahra und ihre Großmutter befinden, liegt einige 50 Kilometer entfernt von Riga, der Hauptstadt.. Lettland gehört zu den baltischen Staaten und liegt zwischen Estland und Litauen. Die zwei anderen Nachbarn des Staates sind Belarus und Russland. Ein Viertel der Bevölkerung gehört in Lettland zur russischen Minderheit. Die lettische Regierung, sowie ihre Nachbarn im Norden und im Süden, hat strengere Maßnahmen unternommen, um die russische Sprache im öffentlichen Raum zu verhindern. So wird ab 2025 kein bilingualer Unterricht mehr in den Schulen angeboten werden. Während einer Reise, die ich im Summer 2023 in den baltischen Staaten unternommen habe, konnte ich die Marginalisierung der russischen Minderheit erleben. Eine junge Aktivistin, die ich dort traf, wollte ungerne über die Geschichte ihrer russischsprachigen Großmutter erzählen, obwohl sie ihre Geschichte in ihrem Leben sehr geprägt und beeindruckt hatte.
Gibt es ein Ereigniss, dass euch besonders geprägt hat? frage ich Dzintra und Tahra. Tahra, die ihren Kopf auf der Schulter ihrer Oma stützte, richtet sich wieder auf. “Ich fühle sehr mit den Ukrainer£innen. Der russische Atem fühlt sich sehr nah am Nacken an hier in Lettland.”
Eine Sache hat Tahra im letzten Jahr durch ihren aktivistischen Einsatz sehr mitgenommen. “Ich habe die Debatte um die Istanbul-Konvention in Lettland sehr aufmerksam verfolgt, vor allem auch über die sozialen Medien der Organisation”. Lettland hat die Istanbul-Konvention 2016 unterzeichnet, sie aber erst im November 2023 ratifiziert. „In der Debatte gab es Stimmen, die sehr weit gingen und versuchten, Sexualerziehung und Abtreibung zu verbieten. Es gab eine Menge Desinformationen und die Argumente gingen so weit wie : „’Homosexuelle werden dann akzeptiert’ übrigens ist Homosexualität nicht Teil der Konvention’ fügt Tahra hinzu, um die absudität des Argumentes zu betonen. Oder die Leute sagten, dass Frauen sowieso geschlagen werden. Es war wie ein Wiederbelebung der #Metoo Debatte, nur in Lettland. Der wichtigste politische Moment für Dzintra war, als „Lettland seine Freiheit zurückbekam!„, „Wie konnten sie die Freiheit spüren?“ frage ich. “Durch die Sprache! Auch wenn meine Bildung die meiste Zeit auf Litauisch war. Russisch war in der Gesellschaft immer präsent. Es scheint mir ein guter Moment die letzte Frage zu stellen. Was verbinden sie mit Macht ? frage ich Dzintra.
Dzintra verbindet Macht mit dem Geistigen und Seelischen. “Macht ist die Fähigkeit aushalten, was im Leben passiert. Es ist die Fähigkeit, in diesen Situationen zu lernen, wie man mit seinen Emotionen umgeht. Es ist die Freiheit, eine Wahl treffen zu können.”
Freiheit ist ein Wort, das immer wieder fällt. Es ist auch ein Begriff, mit dem ich mich aktuell beschäftige. Ich bin in Slowenien, da hier Zizek geboren ist. Er hat ein Buch über Freedom geschrieben. Auch lese ich gerade das Buch von der albanisch-britischen Autorin “Free”. In diesem Buch beschäftigt sie sich als Erwachsene über ihr Erwachsenwerden.
Ohne sich abzusprechen, fügen beide am Ende der Interviews hinzu: “Wir beten für die Ukraine und den Frieden in der Welt.”