Cristina & Elena
Ohaba – Rumänien, Juni 2023
„Es fing gut an, aber ging schlecht weiter„, übersetzt Cristina von ihrer Großmutter, während wir in der Küche von Bunicăs (Großmutter) Haus einen Nachmittagssnack einnehmen. Elena, Cristinas Großmutter, lebt allein in ihrem Haus. Sie hat viele Hühner, einen alten Hund und einen großen Obst- und Gemüsegarten. Das meiste Essen auf dem Tisch wurde aus diesen Früchten und Gemüsen zubereitet; der Auberginensalat, die Tomaten, das Omelett…
Einige Tage zuvor kam ich nach einer halben Nacht im Zug zwischen Budapest und Cluj-Napoca um 2 Uhr morgens an meinem Ziel an. Die Zugfahrt war etwas anstrengend und unbequem. Nur wenige Menschen fahren unter der Woche mit diesem Fernzug. Interrail-Reisende sind noch nicht zu sehen, es ist noch zu früh in der Sommersaison. Die meisten Fahrgäste sind Männer. Der Kontrolleur sagt nur „hmm…“ und schaut mich seltsam an, als er gegen 23:30 Uhr die Fahrkarten kontrolliert und feststellt, dass ich kein Ungarisch spreche. Wir durchqueren ganz Ungarn und halten an sehr kleinen Bahnhöfen, die oft zerfallen sind. Ich bin froh, als in der rumänischen Grenzstadt deutlich mehr Leute zusteigen.
Ich kenne Cristina jetzt seit 3 Jahren und habe letztes Jahr einige Zeit mit ihr verbracht. Damals wohnte sie in einem Studentenwohnheim und teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Studenten. Jetzt wohnt sie in einer Mietwohnung mit ihrer jüngeren Schwester. Die Gebäude im Wohngebiet haben Blocknummern. Ich muss zum Block Nr. 14 gehen. „Willkommen in den postkommunistischen Ländern!„, sagt mir Cristina, als ich sie nach den Nummern frage.
Aufbrechen
Zwei Tage später fahren wir von Cluj-Napoca nach Brașov, um ihre Großmutter zu besuchen. Wir nutzen die Zeit im Zug und ich stelle Cristina ein paar Fragen. Cristina ist 24 Jahre alt und hat letztes Jahr ihr Studium abgeschlossen. Sie hat Programmierung und Informatik studiert, was früher mit vielen Vorurteilen behaftet war. „Vor 20 Jahren dachten die Leute, Anwalt oder Arzt zu sein, sei ein sicherer und privilegierter Beruf. Jetzt dreht sich alles ums Programmieren und Kodieren, denn das ist die Zukunft. Ich war in der Grundschule in Mathe verliebt, geradezu besessen von Mathe, und ich dachte mir: Warum nicht?” Mit 24 Jahren hat sie bereits mehrere Jobs gehabt: zunächst als Haushälterin und Community Managerin. Später hatte sie weitere karrierefördernde Jobs im Bereich Programmierung; zunächst bei einem irischen Unternehmen und bis vor ein paar Wochen in einem Tech-Unternehmen in Cluj als mobile Entwicklerin. Cristina ist ehrgeizig und hat eine klare Vorstellung davon, was sie will: „Ich habe meine Kreativität lange Zeit vernachlässigt, und jetzt versuche ich, meine Karriere neu zu gestalten. Ich interessiere mich mehr für digitale Medien und möchte mehr in diese Richtung gehen.“ Bei ihrer Arbeit fühlte sie sich nie wegen ihrer Nationalität diskriminiert, aber auf Reisen bekam sie oft unangenehme Kommentare und Fragen über Rumänien zu hören. Aber die schlechten Stereotypen, die Rumänien viele Jahre lang auf internationaler Ebene verfolgten, ändern sich. Während ihres Erasmus-Aufenthalts in Dublin war sie glücklich und schämte sich nicht mehr, „als ich in speziellen Geschäften mit rumänischen und osteuropäischen Lebensmitteln einkaufen ging, war ich froh, Rumänisch zu hören.“ Bei einem Besuch des Europäischen Parlaments in Straßburg war sie stolz darauf, dass sich rumänische Parlamentarier um die Bildung der jungen Generationen bemühen. Cristina strahlt Optimismus aus: „Ich bin zuversichtlich, was die Zukunft angeht, ja. Aber man sollte immer in irgendeiner Weise vorbereitet sein.“
Wir sind nicht mehr weit von Brașov entfernt, die Leute neben uns stehen langsam auf, räumen die Spielsachen ihrer Kinder weg, nehmen ihre Kopfhörer ab und setzen ihre Sonnenbrillen auf. Nach einer weiteren 50-minütigen Autofahrt, dicht aneinander, erreichen wir im Laufe des Nachmittags das Haus von Elena. Das Dorf erstreckt sich entlang einer ruhigen Straße. Vor vielen Häusern steht eine Bank: „Das ist das soziale Medium des Dorfes, dort erfährt man den ganzen Klatsch und Tratsch“, sagt Cristina. Auf dem großen Stahltor steht ein Schild mit der Aufschrift „Vorsicht vor dem Hund„. In dem kleinen Vorgarten sitzt der Hund. Im Gegensatz zum Schild ist er sehr alt und nicht so furchteinflößend, da bin ich beruhigt. Im Haus sind alle Rollläden heruntergelassen, obwohl es draußen sehr nach Regen und Gewitter aussieht. Aber besonders auffällig im Haus sind die langen Teppiche, überall außer im Bad und in die Küche! Große rechteckige Teppiche und darüber schmale bunte und lange Läufer. Ein typisches Merkmal für rumänische Häuser.
Cristina liebt Traditionen. Als wir im Haus ihrer Großmutter ankamen, zeigte sie mir zuerst die Blusen und Röcke, die sie an besonderen Tagen trägt, zum Beispiel zu Ostern. Die Kleider befinden sich in einem besonderen Raum im Haus ihrer Großmutter. Der Raum wirkt wie ein Relikt aus der kommunistischen Zeit oder einfach ein Raum, der die Jahrzehnte überdauert hat. An der Wand hängen zwei Bilder der Kinder in kommunistischer Uniform. Beide Kinder tragen auf dem Bild ein orangefarbenes Hemd bis oben zugeknöpft mit einem Pin sowie eine dicke rote Krawatte. Sie starren aufmerksam in die Kamera.
Diskutieren
Am späten Nachmittag sitzen wir alle zusammen im Wohnzimmer direkt am Hauseingang auf der Eckcouch. Cristina hat mir ein paar Tage zuvor erzählt, dass sie sich mit ihrer Großmutter sehr verbunden fühlt. „Ich bin eine ehrgeizige Frau, weil ich immer frei sein wollte. Ich möchte meine eigene Meinung haben. Meine Großmutter versteht das und ermutigt einen immer dazu, selbst aktiv zu werden, wenn man etwas will. So wie sie es in ihrem Leben getan hat. Für sie ging es nicht unbedingt um ihren Beruf, sondern um die Familie. Sie war das Oberhaupt der Familie und sehr stark. Sie hat meinen Großvater immer beeinflusst, Entscheidungen zu treffen und sich für die Familie und die Kinder einzusetzen. Meine Mutter hat eigentlich etwas Angst vor ihr, aber ich finde mich wirklich in ihr wieder.“ “Bună ziua, Elena” sage ich, bevor Cristina die erste Frage übersetzt. Elena wurde 1947 geboren, in dem Jahr, in dem die Rumänische Sozialistische Republik gegründet wurde und der erste kommunistische Diktator an die Macht kam.
Mit 24 Jahren arbeitete Elena schon lange. Sie hatte mit 16 Jahren in der Fabrik angefangen und eine Ausbildung zur Näherin gemacht. Jeden Tag pendelte sie mit dem Zug nach Brașov . Vom Dorf aus musste sie 6 Kilometer bis zum nächsten Bahnhof laufen. „Mein Mann wollte nicht nach Brașov ziehen. Ich war bereit, allein mit den Kindern dorthin zu ziehen, denn das Pendeln und die vielen Schichten waren sehr anstrengend.“ Manchmal arbeitete sie sogar 3 Schichten am Tag: Eine am Morgen, eine am Mittag und eine am Abend. „Als ich anfing zu arbeiten, war der Zugang zu Lebensmitteln ausreichend, es gab Arbeitsplätze und Wohnungen zu günstigen Preisen. Einige Jahre später, als ich 26 oder 27 Jahre alt war und wir nach Brasov zogen, musste mein Mann nach seinen Schichten in der Fabrik drei Stunden lang anstehen, um eine Portion Butter oder Brot zu bekommen. Manchmal kamen mein Sohn oder meine Tochter mit, damit sie sich abwechseln konnten. Natürlich durfte man seinen Platz in der Schlange nicht verlieren, sonst bekam man vielleicht nichts mehr. Der Zugang zu ausreichenden Lebensmitteln wurde sehr schwierig.“ Elena arbeitete viele Jahre in der Fabrik und wurde mehrfach Zeugin von Maßnahmen des kommunistischen Regimes: „Als der Diktator die Fabriken besuchte, liehen sich die Manager Waren von anderen Fabriken aus, um damit zu prahlen, wie viel wir produzieren konnten. Das entsprach überhaupt nicht der Realität, denn wir liehen uns diese für einen oder zwei Tage aus!” Elena erinnert sich daran, dass sie und die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fabrik nach dem Tod des Diktators Gheorghe Gheorghiu-Dej ein schwarzes Band tragen mussten, zum Zeichen der Trauer: „Alle wurden von der Fabrik dazu aufgefordert, der Chef war sehr patriotisch“, betont sie.
Der Kollektivismus ist etwas, das sie bis heute nicht loslässt: „Als ich 17 oder 18 Jahre alt war, wollten meine Eltern den Kollektivvertrag nicht unterschreiben. Die Schulleitung drohte meine Eltern, mich nicht mehr in die Klasse zu lassen, wenn sie nicht unterschrieben.” Später um eine Wohnung zu kaufen, überzeugte ihr Mann den Verwaltungsbeamten, oder man könnte sagen, er bestach ihn mit Produkten aus dem Dorf: Hühner, Lämmer und andere Lebensmittel, die in der Stadt wirklich selten zu finden waren. „Natürlich war es illegal, Tiere zu haben. Man hätte sie anmelden müssen.“ Während des Gesprächs fragte mich Cristina: „Darf ich ihr eine Frage stellen? Ich würde gerne wissen, wie es direkt nach dem Kommunismus war.“ Elena lacht: „Nach dem Kommunismus wurde jeder zu einem kleinen Unternehmer! Viele reisten in die Türkei, kauften Dinge, die während des Kommunismus nicht erhältlich waren, und verkauften sie in Rumänien.“ Der türkische Einfluss hat Rumänien wahrscheinlich über die Objekte hinaus erreicht. Auf dem kleinen 2000er-Jahre-Fernseher in der Küche läuft eine türkische Telenovela mit rumänischen Untertiteln.
Während einer Diskussion, die alle Frauen im Haus auf Rumänisch führen, höre ich das Wort „Revoluție“ . Ich springe ein: Kannst du uns mehr darüber erzählen – wie es war? Die Diskussion dreht sich um zwei Revolutionen gegen das kommunistische Regime zu unterschiedlichen Zeiten. Die erste fand in den Fabriken von Brașov im November 1987 statt. „Die Arbeiter liefen sechs Kilometer von der größten Autofabrik zur kommunistischen Zentrale, in der Hoffnung, die Revolution zu starten.“ Brașov hatte viele große Autofabriken. „Der 15. November war für mich der schockierendste Tag, niemand hatte erwartet, dass die Arbeiter versuchen würden, eine Revolution anzuzetteln, weil jeder Angst vor der Securitate hatte. Mein Mann war Feuerwehrmann und wurde gezwungen, die Demonstration zu streuen.”
Die zweite ist die Revolution, die der Ceaușescu-Diktatur endlich ein Ende bereiten wird. „Unser Fernseher funktionierte nicht richtig, also gingen wir zu den Nachbarn. Alle versammelten sich dort, wo der Fernseher das beste Signal hatte, um zu sehen, was in der Hauptstadt passierte. Am Anfang war es schwer zu verstehen. Im Fernsehen hieß es, dass Terroristen aus anderen Ländern nach Rumänien kamen, aber in Wirklichkeit waren es die Rumänen, die Ceaușescu stürzen wollten. Sie wiederholten: Stürzt Ceaușescu, stürzt Ceaușescu. Es wurde viel geschossen, das konnten wir im Fernsehen sehen.“ Elena sagt: „Sie hätten einen Prozess haben müssen, um das Gute und das Schlechte abzuwägen. Sie wurden direkt erschossen.“ Elena spricht über den Diktator und seine Frau, Elena Ceausescu. Sie wurden am 25. Dezember 1989 erschossen. Ihnen wurde ein kurzer Militärprozess mit dem Hauptvorwurf des Völkermordes gemacht. In den rumänischen Medien war an diesem Tag von 60.000 Toten die Rede, aber manche Zahlen gehen bis zu 2 Millionen Toten in den 24 Jahren, in denen Ceaușescu regierte, aus. Ich erinnere mich, dass Cristina mir während eines Gesprächs sagte: „Es scheint, dass die Menschen im Westen nicht genug über die kommunistischen Verbrechen wissen.“
Wir kommen zum Ende der Diskussion, draußen regnet es schon seit einer Stunde heftig. „Der Garten muss komplett überflutet sein“, denke ich, bevor ich mich an Cristina wende und sage: „Letzte Frage für heute: Was verbinden du und deine Großmutter mit Macht? Für Elena bedeutet Macht Gesundheit und finanzielle Stabilität. Die Zeit, in der sie sich am mächtigsten gefühlt hat, war erst kürzlich. Während ihres Urlaubs in Italien, eigentlich ihr erster Urlaub. Sie fühlte sich stark und frei, weil sie reisen und für sich selbst sorgen konnte. Bevor wir mit Cristina und ihrer Schwester zwei Tage zuvor aus dem Zug aussteigen, fragte ich Cristina am Ende: „Willst du noch etwas hinzufügen?“ „Ja, eigentlich ja. Wichtig ist mir, dass die Menschen lernen, selbst zu denken. Ihre eigene Identität zu finden… die nicht unbedingt mit ihrem Land zu tun haben sollte.”