🇩🇪 Maria & Wiebke

Vreden, Mai 2022  

Vor fünf Minuten saßen wir noch zu zehnt am Esstisch des großen Bauernhofs mit selbstgemachten Kuchen und Kaffee. Jetzt sitzen wir nur noch zu dritt: Maria, die Oma, 84, Wiebke, 18 und ich. Ende Mai fahre ich nach Vreden in Nordrhein-Westfalen an der holländischen Grenze zu Maria und Wiebke. Maria ist meine Großtante, die Schwägerin meines Opas. Ich habe sie vielleicht einmal als Kind bei einer Feier gesehen, dass ich sie und Wiebke kenne, wäre schon zu viel gesagt. Auf dem Weg zum Gespräch sind meine Tante Elisabeth und ich durch eine Reihe Kleinstädte und Dörfer gefahren. Im Münsterland gibt es sehr viele große Bauernhöfe, die oft in den Familien an die Kinder weitergegeben werden. An den Ortseingängen reihen sich Läden mit Zubehör für die landwirtschaftliche Arbeit. Der Landladen Lösing in Vreden verkauft zum Beispiel Tierfutter, Arbeitskleidung und Agrarbedarf, wie im Schaufenster angepriesen wird. Als ich dann bei Wiebke aus dem Auto klettere, steigt mir sofort der Geruch von Kühen in die Nase. Der Weg zu Wiebkes Oma führt hinaus aus dem Dorf durch einen Wald, wo es schwierig wird, als ein Trecker uns entgegenkommt. Als wir ankommen, öffnet sich ein riesiges Tor automatisch und wir fahren rechts entlang des sorgfältig gemähten Rasens und parken. Vor dem Haus steht eine Kreuzstation. Wie ich später erfahre, konnte die Familie von Marias Mann das Gebäude erwerben, weil sie sich als katholische Familie verpflichtete, sich mit dem Kauf des Hauses ebenfalls um die Kreuzstation zu kümmern. Die Töchter von Maria wussten von dem Interview und überraschenderweise sind wir nicht zu fünft, sondern doppelt so viele an dem runden Tisch. Ein, zwei, drei Kaffeetassen später und nach Gesprächen über die Familie und Änderungen im Dorf gehen die Töchter und weitere Gäste spazieren, während ich mit Wiebke und ihrer Oma am großen Esstisch sitzen bleibe. 

Arbeiten

Maria hat ihr ganzes Leben im Münsterland verbracht. Mit 15 Jahren hat Maria angefangen zu arbeiten. Sie wurde Magd auf einem Bauernhof in Borken und hat sich um die Hausarbeit gekümmert. Freie Stunden gab es nur alle zwei Wochen am Sonntagnachmittag. Drei Jahre war sie dort als einzige Magd tätig und verdiente 60 DM, was heute circa 30€ wären. Maria ergänzt: „Es gab keine Chance und etwas anderes als Arbeiten gab es nicht.”. Anfang 20 ist Maria in Crosewick angekommen und hat in einem neuen Bauernhof gearbeitet, mit Kühen, Säuen und Ferkeln. “Das habe ich immer gerne gemacht”. Wiebke erinnert sich an eine Geschichte, die sie schon mal von ihrer Oma gehört hat: “ Stimmt, als es kalt war, kamen die Ferkel und Schweine in den etwas erwärmten und offenen Backofen oder ins warme Wasser, damit sie nicht erfrieren.” Man merkt es ihr nicht an, dass sie viel und lange auf dem Bauernhof gearbeitet hat. Ihre Hände sind gepflegt, mit Altersflecken und Falten.“Wir haben viel erlebt in Vreden, aber es hat immer Spaß gemacht”, diesen Satz wird Maria im Laufe des Interviews mit einem breiten Lächeln zu mehreren Geschichten wiederholen. 

Während des Interviews bemerke ich, dass Wiebke und ihre Großmutter ähnlich angezogen sind. Beide haben ein gestreiftes blau-weißes Hemd. Wiebke trägt das Hemd offen, mit einem schwarzen Rollkragenpulli darunter und einer Kette. Maria hat ihr Hemd fast bis oben zugeknöpft, eine beige Strickjacke darüber und eine Perlenkette um den Hals. Hier im ländlichen Münsterland sprechen fast alle Älteren, aber auch erstaunlich viele  Jüngere Plattdeutsch, das hier dem  Niederländischen sehr ähnlich ist. Deswegen habe ich manchmal Schwierigkeiten, Maria zu verstehen. Maria ist etwas schwerhörig und teilweise gehen die Antworten ein wenig an meinen Fragen vorbei. Sie erzählt die Geschichten, die ihr durch den Kopf gehen. Wenn ich mich an Wiebke richte, um sie nach ihrer Meinung oder Eindrücken zu fragen, werden oft nur drei/vier Sätze ausgetauscht. Das Gespräch springt dadurch etwas hin und her. 

“Von dem jungen Leben haben wir damals nicht viel mitbekommen”, fährt Maria fort. Während der Schützenfeste im Dorf aber waren sie und ihr Mann immer ganz vorne dabei. Maria lacht, während sie erzählt. “Wir haben so richtig mitgemacht und viel Spaß gehabt.” Mit der Nachbarschaft haben sie auch gemeinsam Spiele gemacht und nach dem Fest bei jemandem etwas Kleines gegessen, oft ein Spiegelei. “Ja, wir machen das auch. Wenn wir abends unterwegs sind, halten wir auch zwischendurch bei jemand an, um was zu essen”, antwortet Wiebke ihrer Oma, die sich erkundigt, ob das heute auch so gemacht wird. Der Mitternachtsessen ist über Generationen wohlbekannt. “Ich kann gut verstehen”, fährt Maria fort, “dass Corona vor allem für die Jüngeren sehr schwierig war. Ich habe auch gedacht: Lasst die Jugend wieder raus!”. Ich frage Wiebke, ob sie hier in der kleinen Stadt schon mal gearbeitet hat: “Ja, mal hier und da, bei den Nachbarn babysitten oder in der kleinen Bäckerei bedienen, wo kaum Kundschaft kam und vor dem Abi habe ich in einer Kneipe gekellnert am Wochenende.”

Lernen

Wiebke ist eher zurückhaltend, macht kürzere Sätze in dem Gespräch, hört viel zu, teilt manchmal aber auch eine Erinnerung mit ihrer Oma. Vielleicht ist sie von den ganzen Geschichten ihrer Oma eingeschüchtert. Wiebke befindet sich im Endspurt zum Abitur und  ist gerade 18 geworden. Wegen Corona hat sie nur eine kleine Feier mit zehn Personen veranstaltet. Die richtige Feier wurde nachgeholt. Auch da musste der gebuchte DJ wegen Corona absagen und, sie haben auf den für den Abiball gebuchten DJ zurückgegriffen. Alle haben sich gefreut, denn sie konnten schon mal sehen, was er so drauf hat. Wiebke erzählt, dass sie mit 18 zwischen Lernen, Freunde treffen und feiern, “nicht viel erlebt hat”. Sie weiß noch nicht genau, wie es für sie nach dem Abi weitergeht. Vielleicht ein Praktikum oder eine Reise ins Ausland. Zwei Sachen weiß sie aber: Sie wird 1 Jahr Pause machen und möchte später entweder in Freiburg oder in Berlin studieren, “um etwas anderes als Vreden zu erleben. Ich freue mich aber, die Möglichkeit zu haben, regelmäßig zurückzukommen.” Jetzt genießt sie aber erst mal die letzten Wochen mit ihren Freunden in der kleinen Stadt und hat sich zur Theorieprüfung für den Führerschein angemeldet. Sie freut sich aber nicht unbedingt auf das Autofahren. Bis jetzt fährt sie viel mit dem Fahrrad, da auch alles nah beieinander liegt. Einige ihrer Freunde haben ein Auto um größere Ausflüge zu unternehmen. Ihre Mitschüler*innen haben verschiedene Pläne für die Zeit nach dem Abitur. Mehrere holen Reisen nach, die sie vor Corona geplant hatten, manche fangen ein Studium an und einige starten ab September eine Ausbildung. Maria fragt, ob heute Studium und Berufsausbildung als gleichwertig angesehen werden. „Ja“ findet Wiebke, “heute wird es eigentlich gerne gesehen, wenn jemand mal wieder eine Ausbildung oder etwas Handwerkliches macht.” Maria erinnert sich, dass sie früher alle zur Kirche mussten, bevor sie zur Schule gegangen sind. Sie erzählt weiter: “Politik hatten wir aber gar nicht … Sprachen auch nicht. Insgesamt hatten wir nicht so viele Stunden. Mittags waren wir auch wieder zu Hause, um bei der Arbeit mitzuhelfen.

Das Prägendste in ihren jungen Jahren, sagt Wiebke, war Corona, obwohl der Angriffskrieg auf die Ukraine, der vor einigen Monaten angefangen hat, ebenfalls “die Sichtweise verändert sich, wie schnell Krieg auch da sein kann. Es fühlt sich schon etwas näher an, aber nicht so, wie es Oma erlebt hat, direkt vor der Haustür, aber näher dran als in der Kindheit, wo in irgendwelchen Ländern Krieg war.” Der Krieg wurde in der Schule in einzelnen Fächern thematisiert, zum Beispiel in Erdkunde. Dort haben die Schüler*innen die Flüchtlingsaufnahme zwischen 2015 und 2022 verglichen. Unter Freund*innen ist der Krieg ebenfalls zu einem Gesprächsthema geworden. Wiebke hat aber trotzdem das Gefühl, dass es “die Aufgabe von jedem selbst ist, sich zu informieren.“ 

Beten und Nächstenliebe 

Maria kann sich an kein besonders prägendes Ereignis erinnern, als ich sie danach frage: „Wir haben so viel erlebt, ich kann nicht sagen, dass es eine Sache gibt.” Im Laufe des Gesprächs  schildert Maria dennoch an eine Begebenheit, die sie langfristig geprägt hat. Sie erzählt:

„Bocholt wurde bombardiert, etwa 15 km von da, wo wir gewohnt haben. In dieser Nacht haben wir wirklich das Beten gelernt, es brannte abends lichterloh-die Flugzeuge haben geheult und geschossen, also das kannst du dir gar nicht vorstellen, was wir da erlebt haben. Unsere Oma, die hat damals ganz laut gebetet, da haben wir so in Angst gesessen;wir sind aber gut da raus gekommen. Wir mussten danach wohl Flüchtlinge aufnehmen aus Bocholt. Die Nacht vergisst man im Leben nicht mehr.” Wenn sie im Krieg von der Schule zurückkam und die Flugzeuge im Tiefflug hörte, versteckte sie sich mit Kameraden im Graben oder im Wald. „Zu Hause gab es Pferde auf der Weide und die haben einfach auf die Pferde geschossen. Gräulich, was wir da miterlebt haben. Im Krieg möchte man nicht wieder leben.” sagt Maria gerührt. „Einmal ist unser Haus abgebrannt und wir mussten zu den Nachbarn. Alle neun Geschwister waren überall verstreut, das tut weh… auch heute für die Ukrainer, wenn man alles verlassen muss, tut das weh.” Mehr erzählt sie über die Aufteilung der Familie nicht, ich frage aus Takt auch nicht nach. Ich erfahre später, dass der Brand des Familienhauses viel Trauma mit sich brachte und die ganze Familie lange prägte.

Nach der Tschernobyl-Katastrophe hat Maria zweimal für vier Wochen Kinder aus Weißrussland zu Hause beherbergt. Wiebke fragt “Wie habt ihr eigentlich kommuniziert? Durch Zeichnen oder Zeigen?”, “Am Anfang war es schwer, sich zu verständigen, aber irgendwann ging es doch. Das waren junge Kinder, 8 oder 10, und etwas unterernährt, ich habe mit ihnen gespielt. Die Kinder waren sehr dankbar. Ich habe sie oft gewogen, weil sie sehr dünn waren.“ Die Kinder kamen durch ein Programm der Stadt, bei dem man sich anmelden musste, um Kinder aufzunehmen. Lange schrieben sich die Kinder und Maria noch Briefe, bis im Dorf niemand mehr russisch konnte. “Auch heute zeigen Menschen wieder Hilfsbereitschaft, sagt Maria und nehmen Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Ich finde das richtig so, die Leute sind dankbar dafür. Sie kennt auch mehrere Familien in Vreden, die ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Weder Maria noch Wiebke können sich an ähnliche Programme und private Aufnahme 2015 erinnern. Beide finden es aber richtig und wichtig, dass Menschen in Vreden aufgenommen werden können. Die Dankbarkeit, die ihr kommuniziert wurde, wird Maria nicht vergessen.

Wir werden langsam mit dem Interview fertig. Aus dem Fenster sehen wir, wie alle Schwestern vom Spaziergang zurückkommen. Wiebke, Maria und ich gehen für das Foto nach draußen. “Und habt ihr ein interessantes Gespräch geführt?” Fragt meine Tante, “Ich habe auf jeden Fall noch was gelernt”, antwortet Maria. Das freut mich sehr zu hören, da ich nach dem Interview viele Geschichten und Informationen in meinem Kopf habe und mich bereits frage, wie ich diese aufarbeiten werde. Nachdem alle Fotos und letzte Gedanken geteilt worden sind, verabschieden wir uns langsam und fahren durch das große Tor zurück Richtung Dorf.


Für das erste Interview in Deutschland habe ich Schwierigkeiten gehabt, eine Großmutter zu finden, die sich für ein Interview bereit erklärt. Eine Großmutter hat abgelehnt, da sie ungefähr im Alter ihrer Enkeltochter heute eine Scheidung hatte und dies damals sehr schwierig war, da es nicht akzeptiert wurde. Erst einige Monate später setze ich mich wieder an die Interview-Aufarbeitung von Wiebke und Maria, als mir eine Freundin die Umschlagseite ihres Buches schickt. Ich war mir unsicher, unter welchem Aspekt ich die Geschichte der beiden Frauen erzählen sollte. Auf der Rückseite des Buches wendet sich die Autorin an die jüngere Generation, während sie von den Großeltern spricht: “À la différence d’avec vous, leur jeunesse n’a pas duré très longtemps.” (1) Wenn ich an Maria und Wiebke denke, frage ich mich, wie viel davon noch wahr ist. Hat die unbeschwerte Jugend von Wiebke nicht  bereits seit Corona aufgehört? 

(1) „Im Unterschied zu euch hat ihre Jugend nicht sehr lange gedauert.“

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