Iraklion -Griechenland, Juli 2023

Reisen

Für die meisten Menschen ist Griechenland gleichbedeutend mit Urlaub, Inselhopping oder der Geschichte der Antike. Nach Athen bin ich mit dem Bus von Brasov (Rumänien) über Sofia und Thessaloniki gereist. Diesmal ist meine Schwester meine Reisebegleiterin. Anschließend geht es nach Kreta. Wir machen keine Inselhopping-Tour aber reisen trotzdem mit einer Touristenfähre, die wie ein Bus funktioniert. Während der Überfahrt hält die Fähre an vielen Inseln, um Passagiere ein- und aussteigen zu lassen.

Es ist Mitte Juni, der Höhepunkt der Saison kommt erst noch, trotzdem steigen bei jeder Station Dutzende Menschen ein und aus. In der bereits intensiven Sommerhitze ist auf dem Deck das Klackern der Rollkoffer deutlich zu hören, die sich mit wirren Gesprächen vermischen. Im Hafen von Santorin warten Busse in einer Reihe, um die Touristen zu ihren Hotels und Unterkünften zu fahren, in denen sie eine Woche oder ein paar Tage auf diesem kleinen Fleckchen Erde verbringen werden. Das Schiff bringt uns bis Iraklion, die größte Stadt Kretas mit circa 173 000 Einwohner. Der drittgrößte Hafen Griechenlands empfängt sowohl Kreuzfahrtschiffe, Fähren, die vom Festland ankommen, als auch Containerschiffe, die die Insel versorgen. 

Nach neun Stunden Überfahrt werden wir, wie bereits an den anderen Stopps, aus dem Schiff wie eine Welle mit Sonnenhut rausgelassen. Wie alle anderen Touristen haben wir ein Auto gemietet, “nur so könnt ihr euch einfach auf der Insel fortbewegen”, sagte mir meine griechische Kollegin vor der Reise. Drei mögliche Interview-Kontakte haben wir auf Kreta. Kurz nachdem wir die ersten Kilometer auf die Insel gefahren sind, kommt die erste Nachricht: “Ich hätte mich sehr gefreut, dass Interview zu machen, aber leider ist meine Großmutter etwas schüchtern und traut sich nicht.”, schreibt mir Despina aus Rethymno. Das ist nicht die erste Absage, die wir bekommen, dennoch lässt die Motivation nach. Tausend Gedanken tanzen in meinem Kopf. Kein Problem, ich habe noch einige Kontakte, darunter eine Griechin, die kurz darauf ein Interview bestätigen wird.

Einige Tage später stehen Wahlen in Griechenland an. Am Wahlsonntag, gehen wir in Iraklion, um die Mittagszeit über einen wenig belebten Platz. Sechs Parteien haben ein festen Stand  mit Informationsflyern und Sticker. Zwischen den Häuschen steht ein Radio-Studio, in dem zwei Männer in die Mikrophone sprechen. An manchen Stände stehen Freiwilige, andere sind komplet leer. Wir schauen uns um. Auffällig sind die zwei Bars, die nebeneinander sind. Die linke Bar hat ein großes Banner der Konservativen Partei. Rechts davon in der anderen Bar hängt wiederrum ein Banner der PASOK, der sozialdemokratische Partei Griechenlands. Für die Ergebnisse wird es noch etwas dauern. Schon zum zweiten Mal in diesem Frühjahr gehen die Griech*innen wählen, “das System ist kompliziert und im Sommer hat keiner Lust wählen zu gehen, es ist definitiv nicht demokratiefördernd”, sagt mir später ein Journalist in Athen. 

Endecken

Am Dienstagmorgen früh sitzen wir auf einem Platz im Kamìnia-Viertel, 15 Minuten entfernt vom touristischen Zentrum Iraklions. Um halb 9 bekomme ich eine Nachricht: “Es gab ein Missverständnis, das Interview muss schon heute stattfinden und nicht Donnerstag, die Oma fährt heute extra in die Stadt.” Wir machen uns also rasch auf den Weg. Während der Autofahrt bekommen wir die Adresse und den  Hinweis: die Enkeltochter macht noch eine Radio-Sendung, sollte aber gegen 11 Uhr fertig sein. Schon die letzten Tag auf Kreta haben wir im Auto gemerkt, wie viele Radiostationen es gibt. Die meisten mit melancholischer griechischer Musik und andere mit Mainstream-Songs.  

Als wir am Treffpunkt ankommen, finden wir einen Sitzplatz im Schatten auf einer der Bänke, die überall um die orthodoxe Kirche stehen. Es ist schon lange nach 11 Uhr und wir haben noch keine Neuigkeiten. Ich laufe etwas umher, gehe an einem Haus vorbei, wo die Haustür offen ist. Eine ältere Dame, die gerade saß, steht auf. Ich zeige ihr auf meinem Handy die Übersetzung von: “Hallo, mein Name ist Magali, ich treffe mich heute mit Mania. Wohnt sie hier ?” Sie sagt etwas auf Grieschich und davon verstehe ich nur “ne, ne” und sie schüttelt den Kopf. Ich bedanke mich und gehe. Wohl das falsche Haus. Die Vernetzung mit diesem Großmutter-Enkeltochter-Paar hat über mindestens 3 Personen stattgefunden. Vielleicht sogar mehr denke ich, als eine Nummer aus Athen anruft und eine männliche Stimme mir auf französisch sagt: “Elles arrivent, elles arrivent”. Obwohl ich bis heute nicht weiß, wer genau diese Person war, scheint er zu wissen, auf wen wir warten und wovon er spricht. Daraufhin klebe ich einen der AVIA-Sticker auf mein weißes T-Shirt. Endlich fühle ich mich etwas mehr wie eine Reporterin als eine Touristin. Dieses Gefühl macht mich stolz.

Wir werden erwartet, drei Frauen stehen plötzlich vor einer Haustür und Mania ruft  “Ihr wartet auf mich, denke ich!”. Beide Großmütter von Mania sind da. Eine Oma erkenne ich. Mit ihr habe ich mich vor ein paar Minuten versucht zu unterhalten. Ich habe mich wohl von dem ‘Ne‘ verwirren lassen. Auf griechisch heißt es nämlich „Ja!“. Wir werden in ihrem Haus empfangen. Manias Oma väterlicherseits, Glykeria ist aus ihrem Dorf gekommen, extra für das Gespräch. 

Die Haustür ist ebenerdig, direkt am Bürgersteig. Die Wohnung sieht klein aber gemütlich aus. Links direkt am Fenster nach draußen ist ein Ecksofa und ein kleiner Tisch mit einem Teller Kekse. Wir werden eingeladen, Platz zu nehmen und gefragt, ob wir Kaffee möchten, griechischen Kaffee. Nach einem kurzen Austausch mit Mania über die Fragen und das Interview geht es los. 

“Ich bin 26. Ich besitze zwei Kleidergeschäfte. Ein Geschäft ist für Kleidung von der Stange und das andere für Designerkleidung. Gleichzeitig bin ich auch Radioproduzentin. Wir haben jeden Morgen eine Radiosendung hier in Iraklion auf einem lokalen Sender. Was noch? Ich bin frei. Ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Kinder. Ich konzentriere mich sehr auf den beruflichen Teil meines Lebens. Ich mag meine Arbeit sehr.” sagt Mania am Anfang auf Griechisch. Sie wirkt sehr selbstbewusst und scheut sich nicht vor dem Mikrophon, dass ich ihr hinhalte. Glykeria ist 76, sie hat ihr ganzes Leben auf Kreta verbracht. Besonders ist, dass sie “Präsidentin” (Dorfvorsteherin) von ihrem Dorf ist. “Das ist immer noch etwas Ungewöhnliches auf der Insel, aber nicht nur in Griechenland auch in anderen Ländern.” ergänzt Mania. Glykeria erzählt auf Griechisch von ihrem Leben, schaut mich dabei an und macht große Handbewegungen. Mania lacht und sagt ihr “Aber sie versteht dich nicht!” Ich nicke zu den Gesten und höre aufmerksam zu. Das stimmt – so sehr ich mich auch anstrenge, ich verstehe nicht, was sie erzählt, aber die Intensität der Gesten und Mimik fasziniert mich. Mania übersetzt: “Meine Großmutter ist sehr arm aufgewachsen.“ Glykeria ist 1947 geboren. “Nach dem Krieg waren wir so arm, es gab kaum etwas zu essen. Durch die schlechte Ernährung hatten Mütter, die Kinder bekamen, nicht immer Milch. Viele Mütter sind zu anderen Müttern gegangen und haben so ihre Kinder in den ersten Monaten ernähren können.” Glykeria hat wie viele auf dem Feld gearbeitet, ihr Leben lang, so konnten sie für sich sorgen und sich ernähren. Später hatte sie mit ihrem Mann eine Bäckerei. “Ich habe konfliktvolle Zeiten erlebt”, ergänzt sie. Nach dem zweiten Weltkrieg wütete bis 1949 der Bürgerkrieg. Nach einem Jahrzehnt der Beruhigung, in dem die Wirtschaft stärker wuchs und sich das Land einigermaßen erholte, fing 1967 die siebenjährige Diktatur an. Glykeria war in Manias heutigem Alter im Jahr 1973, 26 Jahre. Ein Jahr später, 1974, ging die Herrschaft des Militär-Regimes, die sogenannte  “Diktatur der Generäle”, zu Ende.

 

Ich drehe mich zu Mania : “Du bist hier super aktiv, kennst viele Menschen und nimmst Sachen in die Hand, stimmt’s ?” frage ich sie. „Ja, ich glaube, dass jede Frau, vor allem in diesem Alter, also um die 25 bis 35, sehr produktiv sein sollte, ohne im Schatten zu stehen. Es ist wichtig kreativ zu sein, sich auf niemanden außer sich selbst zu verlassen und sich gegen alle gesellschaftlichen Stereotypen zu stellen. Ich glaube, dass Männer und Frauen auf dem Gebiet der Arbeit und des Unternehmertums genau gleich sind, auch wenn die griechische Gesellschaft sie nicht so behandelt. Es wird vot allem von Männern verlangt, produktiver, kreativer und autonomer zu sein. diese Ungleichbehandlung unterstütze ich nicht. Deshalb arbeite ich auf diese Art und Weise, und so möchte ich auch weiter arbeiten.” 

“Hast du ein Ereignis, das für dich prägend war?”Ja. Corona hat schon einen starken Einfluss auf mein heutiges Leben gehabt. Es war sehr schwierig. Der Markt war eingefroren, es gab keine Jobs, wir, vor allem junge Menschen, konnten keine Arbeit finden. Ich habe damals an der Bar in einem Club gearbeitet, während Corona haben sie also geschlossen. Zu dieser Zeit habe ich dann Arbeit gesucht und niemand hat mir irgendeine Antwort geschickt. Niemand rief mich jemals wegen eines Jobs an. Dann habe ich etwas Geld gespart, von dem ich entweder ein paar Monate leben könnte, oder ich müsste es verwenden, um etwas aufzubauen. Zusammen mit der finanziellen Hilfe meiner Eltern, habe ich also vor drei Jahren meinen ersten Laden eröffnet. Zur gleichen Zeit habe ich beim Radio angefangen. Vor einem Jahr bin ich mit meinem Geschäft in ein größeres Ladenlokal in der Innenstadt gezogen.” Ich frage nach, ob Mania sich an die Finanzkrise 2008 noch erinnert, und ob sie damals um ihre Zukunft gefürchtet hatte. “Die Krise war in Athen deutlich schlimmer. Hier auf der Insel mieten wir nicht die Wohnung, die Häuser wurden gekauft, gehören der Familie. Und viele Menschen produzieren ihr eigenes Olivenöl, ihr Gemüse. Wir waren also relativ eigenständig und konnten unsere Bedürfnisse decken.”

“Bevor wir fertig sind, habe ich eine letzte Frage, was verbindet ihr mit dem Begriff Macht ?” frage ich. Dabei sind sich Enkelin und Oma einig: Selbstbestimmt leben und eigene Entscheidungen treffen zu können, das ist Macht. Wir trinken, den letzten Schluck Kaffee, essen noch einen der Schoko-Cookies und gehen nach draußen, um ein Foto zu machen. Wir verabschieden uns; als wir das Haus verlassen prallt die Nachmittagshitze auf uns. 

Zwei Tage zuvor hat die Konservative Partei des regierenden Premierminister Mitsotakis die Wahlen gewonnen. Das ist keine Überraschung berichten die Medien und viele Griech*innen stimmen zu. Die Wahlbeteiligung war bei 60% in Iraklion in diesem zweiten Wahlgang. Am Ende der Diktatur war es noch offen welche Staatsform es geben würde : entweder erneut eine Monarchie oder eine neue Republik. Die Ergebnisse waren eindeutig für die Republik. Besonders auf Kreta war die Zustimmung überwältigend und bei mehr als 90 % für die Republik. “Das war richtig.”, fasst Glykeria zusammen. 

Bevor wir am Ende der Woche wieder die Fähre nehmen, besuchen wir Mania in ihrem Geschäft. Es ist direkt im Stadtzentrum, nicht in der Hauptstraße, aber gleich nebenan. Viele schöne lange und kürzere Kleider hängen an den Bügeln. Kräftige Farben sind gerade für Hochzeiten und Feiern gut. Bei Mania trifft man mehr Einheimische als Touristen. Eine junge Frau probiert gerade ein hellblaues, langes Kleid an. Mania berät, ändert wenn nötig den Saum und ist voll in ihrem Element. 

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