Anna & Gracinda
Parades da Vitória , Februar 2023
„Ich dachte, sie würde älter werden“, sagt Gracinda zu ihrer Enkeltochter Anna, als ich ins Haus komme. Mitte Februar treffe ich Gracinda und Anna in Paredes da Vitória, Portugal im Dorf in dem Gracinda lebte, bis sie in ein Altersheim umzug. Es ist ein altes Fischerdorf, das zwischen zwei Hügeln eingeklemmt ist und bis zum Meer reicht. Auf dem Weg von Nazaré aus ist die Landschaft mondähnlich. Annas Mutter erzählt mir, dass vor etwa acht Jahren große Feuer den gesamten Wald vernichtet haben. Seitdem haben invasive Pflanzen das Land erobert, sodass die großen Kiefern, die einst der Reichtum der Region waren, nicht mehr nachwachsen können.
Nur wenige Menschen leben das ganze Jahr über in diesem Dorf. Von der großen Terrasse des Hauses aus können wir einen großen Teil des Dorfes überblicken. Die Neubauten sind von den älteren Häusern zu unterscheiden. Es sind treppenförmig aneinander gebaute Häuser mit der gleichen quadratischen Form und lachsrosa Farbe. Auf der rechten Seite befinden sich Felder, auf denen Erdbeeren angebaut werden, sagt mir Anna. Für den Austausch setzen wir uns in die Korbsessel im Wintergarten. Mit 33 Jahren (das alter ihrer Enkelin heute lebte Gracinda bereits in Frankreich. Sie war eine Immigrantin in Frankreich. „Ich habe viel gelitten. Um ins Leben zu starten, musste ich mich festklammern{…}. Wir wurden auf beiden Seiten schlecht angesehen, von den Französ*innen und den Portugies*innen.“
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Gracinda wurde 1934 in Batalha, einer Kleinstadt etwa 30 km von Nazaré entfernt, in einer Bauernfamilie geboren. Gracinda verließ die Schule mit 12 Jahren. Bereits in diesem Alter erledigte sie die Haus- und Hofarbeiten. Die Liste der Pflichten, die ihre Mutter für sie und ihre vier Schwestern vorbereitete, umfasste zum Beispiel die Suche nach Feuerholz, die Suche nach Eicheln, für die Schweine, das Schneiden von Kräutern und Oliven und noch vieles mehr. Später, als sie heiratete, änderte sich ihre Situation kaum. „Wir lebten damals im Mittelalter im Vergleich zu dem, was ich heute sehe. Wir lebten in einer Diktatur, man konnte nicht reden, nicht über die Situation im Land sprechen. Es war ein abgeschottetes Land. Mit den Männern war es das Gleiche. Gegenüber den Frauen herrschte eine Diktatur“. Von 1933 bis 1974 herrschte in Portugal der Diktator António de Oliveira Salazar an der Spitze. Die Diktatur dauerte bis zum Putsch und der Nelkenrevolution (Revolução dos Cravos) am 25. April 1974. Der Staatsstreich bedeutete das Ende der rechtsextremen Diktatur in Portugal, die über 40 Jahre lang andauerte. Er beendete auch den 13-jährigen Krieg zur Befreiung von Angola, Mosambik und Guinea-Bissau.
Gracindas Mann war ein politischer Aktivist. Zu Hause in Portugal hörte er heimlich Radio, las sehr viel und wusste über viele Dinge Bescheid. „Haben Sie mit ihm zusammen Radio gehört?„, frage ich sie. „Nein, er hat heimlich Radio gehört und manchmal war es so, als wäre ich gar nicht da.“, „Hat dir das Angst gemacht?“, fragt ihre Enkelin Anna. „Nein, ich war ein Laie, ich habe es nicht gemerkt.“ Später machte er sich in Frankreich und Portugal einen Namen für seine militanten, assoziativen und politischen Aktionen. Seine Büste wurde sogar im Einwanderungsmuseum in Paris ausgestellt und er war Verbandsvertreter portugiesischer Organisationen bei den europäischen Institutionen. Was Gracinda an diesem Tag erzählt, ist allerdings nicht sein Aktivismus.
Ihr Mann verließ Portugal als Erster, um nach Arbeit zu suchen und sich in Frankreich niederzulassen. Ihm war gesagt worden, dass die Polizei kommen würde, um ihn abzuholen. Gracinda blieb zwei weitere Jahre in Portugal mit ihren kleinen Kindern, den Tieren und dem Land, um das sie sich kümmern musste, „es war ein Sklavenleben“, sagt sie. In dieser Zeit hatte sie viel abgenommen, war müde und schließlich hatte ihr Mann beschlossen, sie abzuholen. Als Gracinda in Frankreich ankam, sprach sie kein Wort Französisch und hatte ihre portugiesische Heimat kaum verlassen. Sie sagt selbst: „Als ich in Frankreich ankam, wusste ich nichts, das verheimliche ich nicht.” Ihr war sofort klar, dass sie die Sprache lernen musste, um sich durchzuschlagen. Ihr Mann wollte nicht, dass sie arbeitet, er wollte, dass sie bei den Kindern bleibt und sie großzieht. „Er hat mir die Beine gebrochen“, sagt Gracinda.
Während des Interviews sind Kampfflugzeuge zu hören. In der Nähe befindet sich ein Militärstützpunkt. Die Flugzeuge fliegen tief und machen einen sehr dumpfen Lärm, der es erfordert, dass wir das Gespräch für eine Weile unterbrechen. Sie fliegen so gleichmäßig vorbei, dass wir schließlich den Lärm der Flugzeuge mit dem langen Heck ignorieren und uns weiter unterhalten.
„Wir mussten nach Paris fahren, um die Papiere zu beantragen, um legal zu sein. Er hat mich mit in den Zug gesetzt und ich habe meine Kinder ganz allein in dem kleinen Haus zurückgelassen“, fährt Gracinda emotional fort. Ich selbst konnte nichts sagen, ich folgte ihm wie ein kleiner Hund. Nach der Verabredung ging er zur Arbeit und sagte zu mir: „Du zählst die Stationen und steigst an der achten aus. Ich geriet in Panik, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich bin ein bisschen schüchtern!“, rief Gracinda. Als ich an der Station ankam, die ich gezählt hatte, bin ich durch die entgegengesetzte Tür gegangen, also musste ich die Gleise überqueren. Die Polizisten haben mich gesehen…!“, sagt sie und klatscht in die Hände, als würde sie die Szene noch einmal durchleben. „Ich wollte die Papiere nicht herausgeben, weil ich nicht die Adresse hatte, an der die Kinder waren, sondern die andere Adresse, an der wir als allererstes angekommen waren. Ich dachte, ich würde meine Kinder nie wieder sehen. Ich war tot. In der Panik ich weiß wie, aber ich erinnerte mich an die Adresse. Dann ließen mich die Polizisten gehen. Gracinda beendet ihre Erzählung : „Jeder sollte ein Einwanderer sein, um die Welt zu verstehen, um andere Kulturen zu verstehen, um andere Menschen zu verstehen, das ist sehr, sehr wichtig. Man ist immer in der Fremde, der Ort, an dem man geboren wurde, ist immer da. sagt Gracinda und legt ihre Hand auf den Kopf, um ihr Gehirn zu zeigen, es verschwindet nicht.
Gracinda wollte nicht untätig bleiben, sagt sie und verschränkt ihre Arme, um mir zu verdeutlichen, was sie meint. „Ich habe angefangen, nach ein paar Haushalts- und Putzjobs zu suchen, ich habe angefangen zu arbeiten und ein bisschen was dazu zu verdienen, ich war so glücklich“. Ihr Mann wusste anfangs nicht, dass sie arbeitete, da er morgens um 7 Uhr losfuhr und abends um 6 Uhr nach Hause kam. Als er es erfuhr, sagte er nichts, sondern ließ es geschehen.
Anna ist gerade 33 Jahre alt geworden, „Ich fühle mich glücklich, gut betreut, in einer Beziehung mit jemandem, der mich respektiert, mich ermutigt und mir zuhört, ein Lebensgefährte. Im Gegensatz zu Oma bin ich mit einer Person zusammen, mit der ich mich wie ein Team fühle. Wir ziehen unsere Tochter gemeinsam auf. Ich habe einen Beruf, der viel Zeit in Anspruch nimmt und mich viel reisen lässt. Vor kurzem war ich in Burundi und Haiti, einem der Länder, die mich am meisten beeindruckt haben! Ich habe noch nie eine Immigration erlebt, und wenn ich in eine andere Stadt gezogen bin, war das meine eigene Entscheidung.” Anna sagt, sie habe ein ruhiges Leben und noch viele Pläne, aber sie weiß, dass nichts endgültig ist. Annas Geschichte endet schnell, aber wenn man zu den Ereignissen kommt, die die beiden Frauen geprägt haben, muss Anna nicht lange nachdenken:
“Die Geburt meiner Tochter hat mich persönlich am meisten geprägt. Es verändert alles, wenn man Mutter wird! Es verändert die Art zu denken; man hat eine kleine Person unter seiner Verantwortung, man beginnt andere Dinge zu verstehen, zum Beispiel wie die eigenen Eltern gehandelt haben. Man versucht, anders zu bauen.“ In Bezug auf die Politik hat sie vor kurzem etwas anderes tief beeindruckt. „In Frankreich wollten sie den Schwangerschaftsabbruch, die Abtreibung… in Frage stellen“. Sie wendet sich an ihre Großmutter, um sich zu vergewissern, dass sie verstanden hat, wovon sie spricht. „Und ja, das hat mich geprägt, weil ich es selbst erlebt habe“, fährt Anna fort, „Für mich ist das ein Grundrecht. Es ist nicht so, dass ich mich engagieren möchte, weil ich der Meinung bin, dass ich keine Zeit, keinen Biss und keine Energie habe, aber auf jeden Fall hat es mich verärgert, es hat mich verärgert in Bezug auf den Status der Frau und unsere heutigen Rechte, die wir erworben haben.“ Schließlich stimmte der französische Senat Anfang 2023 mit einer Mehrheit dafür, dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in die französische Verfassung aufgenommen wird. Ich frage Anna, ob sie bereit ist, über ihre Erfahrungen zu berichten. „Es war eine Entscheidung als Paar nach unserem ersten Kind. Keine einfache, weil ich denke, dass es sowieso immer eine nicht einfache Entscheidung ist, auch wenn etwas mehr in den Köpfen der Menschen angekommen ist, zumindest bei Leuten, die, wie ich denke, aufgeschlossen sind, dass es eine Möglichkeit ist für Frauen. Bevor es mir passiert ist, war es für mich etwas, das nicht ganz harmlos war, aber fast. In Wirklichkeit ist es eindeutig nicht so! Ich denke, es kommt darauf an, wie jede damit umgeht. Aber für mich war es auf jeden Fall kompliziert. Mit den Ärzten war es im Großen und Ganzen okay. Die Behandlung vorher war ziemlich gut und sanft. In dem Moment jedoch nicht. Es war wirklich sehr medikalisiert, es war wie am Fließband. Ich habe danach keine Betreuung mehr bekommen, es war brutal. Außerdem hatte ich danach viele, viele Schmerzen. Das war nicht so gut. Ich musste es zweimal machen, weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat.” Ich frage sie, ob sie glaubt, dass die Tatsache, dass ihr Partner bei ihr ist, etwas an der Art und Weise geändert hat, wie die Ärzte sie aufnehmen: „Oh ja, das, ja, ja, ja. Dass er da war, und bei allen Terminen dabei Ja, klar, das hat was geändert“, antwortet Anna wie aus der Pistole geschossen. „Ich werde immer sagen, dass ich zwei Schwangerschaften hatte. So habe ich es akzeptiert, und gleichzeitig möchte ich darüber reden. Es stimmt, es ist ein besonderer Akt, es ist nicht harmlos. Aber was heute noch fehlt, ist eine vollwertige und wirklich spezielle Betreuung für diese Art von Behandlung. Sowohl um ihn von der Mutterschaft zu unterscheiden, von etwas Fröhlichem, als auch um gleichzeitig eine ultraprotokollarische, medikalisierte Betreuung zu vermeiden, als wäre es eine Krankheit, was für die Frau traumatisch sein kann.“
Für Gracinda ist es schwierig, ein bestimmtes Ereignis zu benennen. Sie beginnt allgemein von der Zeit der Befreiung der Frauen und der Freiheit zu sprechen: „Das war der Moment, in dem ich meinem Mann zu verstehen gab, dass ich das Recht habe zu sprechen.“ Anna, ihre Enkelin und ich versuchen zu verstehen, auf welchen Zeitpunkt sie sich bezieht: die 68er-Demonstrationen, das Ende der portugiesischen Diktatur, etwas anderes. Wir unterhalten uns jetzt bereits eine Stunde und wir merken, dass Gracinda müde wird und die Fragen für sie schwieriger zu beantworten sind. Trotzdem erzählt sie uns, dass ihr Mann sich sehr verändert hat, als die Frauen freier sprechen konnten. Etwas früher in der Diskussion erwähnt Gracinda ihre Reise nach Ägypten. Sie nannte sie nicht als herausragendes Ereignis, aber ihrer Erzählung zufolge scheint sie sie sehr berührt zu haben. „Es war großartig, dorthin zu gehen … die Kultur, die Kommunikation, die Reaktionen…. sehen. Ich habe immer noch einen Film in meinem Gehirn von dieser Reise“.
Wir beenden unsere Diskussion über Macht. Gracinda sagt: „Macht bedeutet, an seinem Platz zu sein, weil frau vorher keinen Platz hatte; jetzt hat frau ihren Platz. Ich existiere, ich bin jemand, ich bin hier.“ Für Anna symbolisiert Macht Unabhängigkeit und die Fähigkeit, vor allem aber die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen. „Das ist die Erziehung, die ich erhalten habe: eine starke und freie Frau zu sein“.
„Es war interessant und cool, dieses Interview zu führen.“ betont Anna am Ende nachdem das Mikrophon aus ist. Gracinda wiederholt mit unsicherer Stimme: „Ja, es war cool!„.
Erst nach dem Tod ihres Mannes begann Gracinda zu lesen, sich mehr für aktuelle Ereignisse zu interessieren und vor allem eigene Ideen zu entwickeln. Heute fühlt sie sich von den Menschen in ihrem Altenheim unterfordert: „Sie wissen nicht, was sie erzählen sollen. Sie sind in der Zeit stecken geblieben. Zum Glück bin ich nach Frankreich gegangen, ich habe viel gelernt, es war traumatisch, aber eine Bereicherung“, sagt Gracinda. Einwandern und Reisen fallen beide in die größte Kategorie der Mobilität. Das eine bringt alle Arten von Traumata, Infragestellungen und eine große Anzahl von Hindernissen mit sich. Das Reisen ist für denjenigen, der sich um nichts kümmert, das Reisen ist dazu da, um Kraft zu tanken, abzuschalten und neue Dinge zu entdecken. Wie Anna sagte, wird das eine von denjenigen, die aufnehmen, akzeptiert, weil es von kurzer Dauer ist. Das andere wird oft als etwas gesehen, das man bekämpfen muss, damit es aufhört. Gracinda, die in den 1950er Jahren eine Immigrantin war, würde heute wahrscheinlich als „Expat“ gesehen werden.