Emmanuelle & Yvonne

Cauvigny, August 2023

Engagieren

Emmanuelle und Yvonne sitzen dicht nebeneinander, als sich ihr Zoomfenster öffnet. Ich hatte Emmanuelle über Instagram kontaktiert, um sie für ein Interview zu gewinnen. Auf ihrem Profil kann man einige Informationen sehen: ihr Stadt, ihr Fachstudium, ihre Partei und ihre letzte Auszeichnung: zweite Gewinnerin der Miss d’Thelloise. Als ich ihr die Anfrage schickte, war sie sofort begeistert. Wir hatten uns einige Tage zuvor telefonisch gemeldet, um einen ersten Kontakt herzustellen. Ich sehe Emmanuelle und ihre Großmutter zum ersten Mal auf Zoom. Auf der rechten Seite hat Emmanuelle ein großes Lächeln. Auf der linken Seite fällt ihre Großmutter Yvonne fast aus dem Bild. Sie sieht perplexer aus. “Es gibt keine falschen Antworten.“ beruhigt Emmanuelle ihre 81-jährige Großmutter, wenn es darum geht, ihr Leben mit 20 Jahren zu erzählen. 

-“Was sage ich also jetzt?” fragt Yvonne
-“Na, was hast du 1962 mit 20 Jahren gemacht?” antwortet Emmanuelle
-„Ich habe in einer Bank auf den Champs-Elysées gearbeitet, im schönsten Gebäude der Avenue. Ich habe gearbeitet, das ist alles. Ich habe im 17ᵉ Arrondissement gelebt, neben dem Parc Monceau, mit meiner Mutter“, erzählt Yvonne.
-„Was war Ihre Arbeit in der Bank?“, frage ich. 

„Ach, das war eine archaische Arbeit. Es hieß Clearing. Wir bekamen Schecks, viele Schecks, und wir mussten sie nach Banken sortieren. Und dann, oh la la, es gab viele Schecks! Wir hatten eine Maschine und ein großes Tablett, um sie zu sortieren“, antwortet Yvonne und zeigt mit ihren Händen, die auf beiden Seiten des Bildschirms verschwinden, die Größe des Tabletts auf. “Vor allem musste man am Abend die richtige Zahl haben, sonst mussten wir alles neu zählen. Wenn man heute sieht, wie wir das gemacht wird, es hat sich viel verändert!“, ruft Yvonne. Sie lacht, als sie sich an ihren Beruf erinnert, der ihr heute so unwahrscheinlich vorkommt. Als sie in der Bank arbeitete und die Schecks sortierte, konnte sie selbst keine Schecks einreichen. Erst drei Jahre später, 1965, durften Frauen in Frankreich ein Bankkonto eröffnen und ohne die Zustimmung ihres Mannes arbeiten.

Die Bank war nicht ihr erster Job. „Davor war ich Schuldnerin im Kaufhaus Printemps, das war die Position unterhalb der Verkäuferin auf der hierarchischen Leiter! Oh la! Ich weiß nicht, wie das heute heißt, das muss sich geändert haben!“ Tatsächlich gibt es diesen Beruf seit einiger Zeit nicht mehr. „Ich war damals sehr cinephil. In Paris konnte ich zu Fuß ins Kino gehen“, fährt Yvonne fort. Heute ist es auf dem Land eine 20-minütige Autofahrt, das ist etwas anderes! Am Wochenende ging ich zum Tanzen ins Le Moulin brûlé (Die verbrannte Mühle). Das Restaurant dort ist übrigens verbrannt. Wenn wir sonntags tanzen gingen, blieben wir bis zum Morgengrauen, um die erste U-Bahn zu nehmen. Ich ging nach Hause, zog mich um und ging dann zur Arbeit.

Emmanuelle, 20, wohnt einen Teil der Zeit bei ihren Eltern und den anderen Teil bei ihrer Großmutter. Ihre Großmutter wohnt näher an der Universität. Doch selbst mit dieser Annäherung muss sie morgens und abends 1:30 Stunden nach St-Denis pendeln, wo sich ihre Fakultät befindet. „Mein Leben mit 20 besteht aus der Geschichtsfakultät, dem Unterricht als Tutorin für Hausaufgabenhilfe und der Pflege meiner Großmutter, ihr Gesellschaft zu leisten, aber auch die Katze und den Garten zu genießen.“ Carlos krabbelt im Wohnzimmer herum. Emmanuelle und Yvonne ermahnen ihn. Carlos ist die Katze! „Zu Hause könnte ich keine Katze haben, weil meine Mutter allergisch ist. Meine Mutter ist zwischen Frankreich und dem Kongo aufgewachsen. Für sie sind Haustiere schlechte Menschen, die wiedergeboren werden. Außerdem ist Carlos eine schwarze Katze, also!“

Nachdem ich erneut die Frage stelle, erzählt Emmanuelle mehr über ihr politisches Engagement, das jedoch einen großen Teil ihres Lebens ausmacht. „Ich bin nicht mit vielen Freunden aufgewachsen, und an den Wochenenden in der Schule hatte ich nicht viel zu tun. Ich brauchte einen Ort, an den ich flüchten konnte. Ich wusste schon immer, und auch mein Umfeld wusste schon immer, dass ich eines Tages in die Politik gehen würde. Und ich dachte mir, warum nicht einfach loslegen“, erklärt Emmanuelle.

„Und wie bist du dann zur Les jeunes Generations gekommen?“, frage ich. Les jeunes Generation ist eine Jugendbewegung, an der sich mehrere linke Parteien in Frankreich angliedern. „Im Jahr 2020 bin ich zu einer Demonstration in Beauvais gegangen. Es war eine Demonstration gegen strukturellen Rassismus und gegen die Ideen der extremen Rechten. Ich war mit der kleinen Schwester einer Freundin unterwegs. Um uns zu schützen, hatten wir uns schwarz gekleidet und eine Kapuze aufgesetzt. Während der Demonstration habe ich das Wort ergriffen. In diesem Moment dachte ich mir, dass ich der ersten Partei, die zu mir kommt und die meine Ideen teilt, beitreten werde, um mich zu engagieren. Die Parteien, die für mich in Frage kamen waren entweder la France Insoumise oder Les jeunes Génération. Letztendlich war es Les jeunes Génération, die zu mir kamen, um mich zu rekrutieren. Mein Vater hatte mir verboten, zu dieser Demonstration zu gehen!“
-„Und jetzt kommt dein Vater mit dir zur Demo!“, ruft Yvonne.
-„Er ist sogar Mitglied der Grünen Partei!“, fügt Emmanuelle hinzu. 

„Also war deine Teilnahme an der Demo noch nicht Teil deines Engagements?“, frage ich, um besser zu verstehen. „Genau. Es gab ein Open Mic, wo jede(r) seine/ihre Erfahrungen teilen konnte. In meiner Rede habe ich gesagt, dass ich Glück habe, weil ich einen französisch klingenden Nachnamen habe, was bei meinen Halbbrüdern nicht der Fall ist. Ich bin in einer Art Passing. Selbst wenn ich halb schwarz bin, habe ich weniger Schwierigkeiten, eine Wohnung oder einen Job zu finden als meine Halbbrüder.“, stellt Emmanuelle klar. Trotzdem spürt sie den Rassismus und die Mikroaggressionen in ihrem täglichen Leben. Die Popularität der extremen Rechten beunruhigt sie. Als sie aufwuchs, gab es in ihrer Umgebung fast keine BIPOCs. In der Schule waren sie zwei. „In der Mittelstufe wurde mir bewusst, dass ich anders bin, und ich verstand, dass das meine Stärke ist. Ich wurde aber deswegen gemobbt. Erst auf dem Gymnasium wurde mir klar, dass ich nicht weißer aussehen und meine Haare glätten muss, um von allen gemocht zu werden, sondern einfach nur ich selbst sein muss.“

Seit fast drei Jahren ist Emmanuelle politisch engagiert, macht Wahlkampf, geht zu Demonstrationen und nimmt an Versammlungen teil. „Schon in der Mittelstufe war ich Sympathisantin der Sozialistischen Partei und unterstützte einen lokalen Politiker.“  Emmanuelle und Yvonne tauschen sich kurz über die Politiker in der Region aus. Sie sind nicht ganz auf derselben Wellenlänge. Yvonne sagt über den Lokalpolitiker: „Nein, den mag ich nicht so sehr, er ist immer am tratschen“. Trotzdem könnte es sein, dass Emmanuelle in naher Zukunft eine Liste mit diesem Politiker teilen wird. „Wenn ich bei den nächsten Departementswahlen mit ihm zusammen auf einer Liste stehe, weiß ich, dass meine Großmutter nicht für mich stimmen wird“, fasst Emmanuelle zusammen, um ihre Großmutter zu necken. „Bei den letzten Wahlen hatte ich einen Trick ausprobiert!„, fährt sie fort. „Ich habe die Wahlzettel für meine beiden Großeltern vorbereitet. Mein Großvater hat gesagt: „Okay, okay, kein Problem.” Aber bei meiner Großmutter hat es nicht so gut funktioniert, sie hat den Umschlag geöffnet, um zu sehen, welcher Stimmzettel drin war„, sagt Emmanuelle lachend und wendet sich an ihre Großmutter. “Ja, ich entscheide selbst, wen ich wähle.” antwortet sie.

Für Emmanuelle sind die 2020er Jahre sehr angstbesetzt.  „Ich habe oft Angst, dass ich eines Morgens aufwache und ich feststelle, dass wir uns im Krieg befinden.“ Als Emmanuelle jünger war, machte sie sich viele Gedanken darüber, wie es war, während des Kalten Krieges zu leben und wie ihre Großeltern darüber dachten. Die 1960er Jahre waren ein Höhenpunkt der Spaltung im Kalten Krieg. „Damals machte ich mir keine Gedanken. Ich mache mir heute mehr Sorgen.“ antwortet Yvonne.

Ein prägendes Ereignis für Emmanuelle war natürlich Corona und alles, was das für ihre geistige Gesundheit bedeutete. „Ich nahm nicht am Unterricht teil und ging selten aus meinem Zimmer. Bis die Schulleiterin meinen Vater anrief und ihm sagte, dass sie sich wirklich Sorgen mache.“ Aber nicht nur das. Im Jahr 2016 lebte Emmanuelle mit ihren Eltern im Kongo. In dieser Zeit fanden Präsidentschaftswahlen statt. „Es gab kein Internet, kein Telefon. Es gab nur Fernsehen mit einem schlechten Signal. Die Kommunikation im Allgemeinen war unterbrochen.“ In dieser Zeit ereigneten sich die Anschläge in Brüssel und auf den belgischen Flughafen. Daraufhin schloss überstürzt die französische Schule, die Emmanuelle besuchte ebenso wie das Konsulat und eine Reihe von Botschaften im Kongo. „Viele Eltern der französischen Schule arbeiteten auf See auf Offshore-Ölfeldern. Diese Eltern wurden von der Armee gewarnt. Meine Eltern arbeiteten am anderen Ende der Stadt und es war extrem kompliziert, sie zu kontaktieren. Pointe-noir ist eine segregierte Stadt. Je näher man am Meer ist, desto weißer ist es. Je weiter man vom Meer entfernt ist, desto schwarzer ist es. Ich konnte sie nicht anrufen oder ihnen eine Nachricht auf WhatsApp schicken“, erzählt Emmanuelle.“ Yvonne fügt hinzu: „Ja, und wir konnten überhaupt nicht mit euch kommunizieren.” Emmanuelles Mutter reiste im Februar 2020 in den Kongo zurück und konnte erst ein Jahr später wieder einreisen. Während Covid waren die Grenzen geschlossen. Es gab drei Flugzeuge für die Rückführung aus dem Kongo. Das erste war voll. Im zweiten gab es Schüsse. „Meine Mutter wollte es nicht noch einmal mit dem dritten Flugzeug versuchen und wartete mit der Rückkehr, bis die Grenzen offen waren. Das geschieh erst ein Jahr später“

Selbst durch den Zoom-Bildschirm ist das Vertrauensverhältnis zwischen Yvonne und Emmanuelle spürbar. „Für Oma war die Tour de France 1964 sicher ein wichtiges Ereignis. Da hat sie meinen Großvater kennengelernt!„. Yvonne lacht genießerisch und wischt den Satz mit einem Handzeichen weg. „Nein, das erzählen wir nicht!„. Später waren sie zusammen Vorsitzende eines großen Sportvereins in der Region. „Sie saßen mit den wichtigsten Leuten am Tisch. Und sie haben Dinge und Menschen bewegt!„, fügt Emmanuelle hinzu.

„In den 60er Jahren haben wir ruhig gelebt. Für mich war es vor allem 68. Wir lebten noch in Paris. Wir gingen zur Arbeit, aber alles war geschlossen. Ich war damals auch schwanger.„, beginnt Yvonne zu erzählen. Sie erinnert sich an eine Anekdote aus einer ziemlich komischen Situation: „Opa hatte das Auto auf der Straße stehen lassen, weil es nicht mehr weiterging, es gab kein Benzin mehr, es gab nichts mehr. Als es ruhiger wurde, mussten wir das Auto holen. Meine Mutter war Krankenschwester, also hatte sie eine Prioritätskarte, um an Benzin zu kommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer das war!“ 

Ein kurzes Schweigen tritt ein, als ich frage, was sie mit dem Begriff Macht verbinden. “Ich kann das nicht beantworten, nein, ich weiß nicht“, sagt Yvonne. „Für mich hat Macht etwas mit Einfluss zu tun. Denn wenn man Macht hat, kann man andere Menschen beeinflussen.“ „Aber wer ist denn mächtig?„, fragt Yvonne. Mit dieser Bemerkung erinnert sich Emmanuelle an ihren früheren Journalismusunterricht. „Es gibt die sogenannten Gruppenführer. Jede Person wählt ihren Gruppenleiter*in oder Meinungsleiter*in, der einen in einem bestimmten Thema oder allgemein auf gute oder schlechte Weise beeinflusst.” „Ich habe keinen Gruppenleiter*in, weder damals noch heute„, erwidert Yvonne. „Ich gehöre zur Generation der Beeinflussten” , antwortet Emmanuelle ohne zu zögern.

Mit einem Knopfdruck sind beide Geschichter weg und ich komme wieder in meine eigene Realität in dem Hostel in Chisinau zurück.

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