ANNETTE & NINA
Berlin-Hermsdorf – Deutschland, Juli 2023
“Mir war die Geschichte meiner Familie schon immer bewusst, nur ist sie mir in letzter Zeit mehr aufgefallen und als ich von dem Interview-Thema gehört habe (Familien mit Migrationsgeschichten), ist mir aufgefallen, dass ich da ja auch infrage käme.”
Ich treffe Nina, 26, und Annette, 93, in ihrem Zuhause in Berlin-Hermsdorf, etwa 30 min. vom Brandenburger Tor. Der Kaffee und Kuchen-Tisch ist gedeckt. Eine blaue Tischdecke mit weißen Blümchen, das ebenfalls geblümte Kaffee-Set mit fünf Tellern, Tassen und Untertassen. In der Mitte steht ein Schokokuchen mit Glasur und braunen Streuseln, er ist glutenfrei. Wer gerne von Traditionen und Kulturen spricht, ist hier richtig.
Nina habe ich beim Sporttraining und auf Partys getroffen. Sehr gut kenne ich sie nicht, ihre Familie erst recht nicht, aber ich werde sehr herzlich empfangen. Wir essen Kuchen, trinken Kaffee mit Nina, ihrer Mutter und beide Großeltern. Um die Geschichte der Familie zu verstehen, muss man ein paar Jahrhunderte zurück, sagt mir die Mutter von Nina – ins 18. Jahrhundert. Nach der Machtübernahme um 1792 bemüht sich Katharina II von Russland, ausländische, unter anderem deutsche Landwirte ins russische Kaiserreich zu locken. “Es gab für sie Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und verfügbares Land. Es entwickelten sich evangelische Dörfer und katholische Dörfer, je nachdem aus welcher Ecke von Deutschland die Menschen ausgewandert waren.” erklärt Ninas Großmutter Annette. Der Großvater sagt etwas lauter: “Am 14. März 1944, da mussten wir fliehen!“. Nachdem die Mutter und der Großvater von Nina sich im Garten verabschiedet haben, erzählt Annette weiter.
“Mit 26, (das Alter von Nina heute), habe ich den Beruf als Schneiderin gelernt. Das war ganz großes Glück, dass ich es machen durfte. Wir waren in Sibirien, in Nowosibirsk, knapp 10 Jahre schon. Als wir hier mit meiner Mutter ankamen, habe ich Haushaltsarbeit gemacht, bei Leuten geputzt und gewaschen. Wir waren damals nicht frei, unsere Pässe und Papiere hatten wir nicht mehr und wir mussten uns jeden Monat beim Kommandeur melden. 25 Jahre lang hatten wir keinen Anspruch auf unsere Heimat, das mussten wir bei der Ankunft unterschreiben. Ich habe mit 26 geheiratet. Mein Mann kam aus einem Dorf nicht weit von da, wo wir auch herkamen, aber wir haben uns in Sibirien kennengelernt. Am 1. Januar 1955 haben wir geheiratet, das war der einzige freie Tag, den wir hatten. Urlaubstage hatten wir nicht.”
Annette ist 1930 geboren in der heutigen Ukraine, in der damaligen UdSSR. Sie ist in einem Dorf aufgewachsen, das Helenental hieß und das sich heute in der Region Odessa befindet. Annette und ihre Familie verließen ihre Region 1944, als sich die Kämpfe an der Ostfront zwischen der Wehrmacht und der Sowjetunion intensivierten. Sie gingen zu Fuß bis nach Budapest. Annette war damals 13 Jahre alt. “Dann wurden wir nach Polen deportiert, mit dem Zug. Dort haben wir neun Monate im Lager gearbeitet. In Polen mussten wir nur arbeiten, wenn man Glück hatte, gab es genug zu essen. Geld gab es nie. Danach dachten wir, es geht nach Hause.” Sie und ihre Mutter wurden von der Roten Armee ins Ural deportiert. Die Russen hatten sie erneut enteignet und in den Zug gesetzt. Annette sagt: “1947, mit 17 Jahren wollte ich zu meinem Vater und habe meine Mutter durch unzähligen Schlamm und Zäune gehetzt, damit wir nach Nowosibirsk kommen. Ich hatte keine Angst und war jung.”
Wenn ich Sibirien höre, denke ich schnell an den nördlichsten Norden von Russland, doch diese Stadt liegt im Süden Russlands und Sibiriens, in der Nähe der kasachischen Grenze. “Ihr Vater war in der Wehrmacht, er war Kriegsgefangener.”, sagt Nina. “Die haben ja nicht gefragt, ob man zur Armee wollte oder nicht.” fügt Annette hinzu, als wolle sie ihren lang verstorbenen Vater in Schutz nehmen. “Als wir in Sibirien ankamen, hatte mein Vater keinen Platz für uns. Mit ihm in Gefangenschaft haben vier weitere Männer gewohnt. Anfangs, war es schrecklich.”
Nina und Annette sitzen nebeneinander mir gegenüber. Nina trägt ein weißes T-Shirt und eine schlichte goldene Halskette. Ihre langen Haare fallen ihr bis unter die Schultern. Annette hat kurze grau-weiße Haare und trägt eine geblühmte Bluse. Sie schauen sich während des Gesprächs häufiger an. Nina wiederholt manchmal Fragen oder fügt den Geschichten, die ihre Großmutter erzählt, Informationen hinzu.
Nina ist 26 und wohnt in Berlin-Kreuzberg; sie fängt im August einen neuen Job an.“Ich werde Managerin im Onlineshop eines nachhaltigen Unternehmens aus Skandinavien, die Lebensmittel, die sonst weggeschmissen wüden, weiterverkaufen. Ich freue mich darauf, mal was Neues zu lernen und wollte generell schon länger zu einer nachhaltigen Firma. Die Geschichten von meiner Oma höre ich nicht zum ersten Mal, aber immer, wenn ich das höre, dann denke ich, was für ein Glück ich habe. Im Prinzip ein Privileg, dass wir lernen können, was wir wollen, arbeiten können, was wir wollen, dass wir einen Freiraum haben.” ergänzt Nina, indem sie ihre Oma umarmt.
“Gibt es etwas, das dich politisch, gesellschaftlich oder persönlich besonders geprägt hat? “ frage ich, während wir draußen wirre Gespräche aus dem Garten hören. “Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns natürlich alle erschüttert, vor allem mit unserer Geschichte. In meiner Generation sind aber gerade so viele Sachen, die einen politisch aufmerksam machen. Erst kürzlich der Krieg, davor drei Jahre Corona. Insgesamt gab es eine Zeit lang das Gefühl, dass man sich immer mehr vereint. Und jetzt wird alles patriotischer, nationalistischer und extremer, alle werden egoistisch und versuchen sich zu beschützen, es macht einem halt einfach auch Angst.” antwortet Nina. Beide Frauen haben am Anfang des russischen Angriffskriegs ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Bei Nina war eine 19-jährige Studentin aus Kiew, die bereits mit 14 aus Charkiw geflohen war. Sie haben sich auf englisch unterhalten. Bei den Großeltern und den Eltern kamen ein Vater und eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter unter. Sie haben sich auf russisch unterhalten. “Ja, ich habe zwei Jahre russisch gelernt in der Schule.” sagt Annette, wie eine Erklärung für ihre Kenntnisse. Das prägendste Moment für Annette: “1972 ist die ganze Familie nach Deutschland gekommen als Heimkehrer. Wir wurden zu dieser Zeit offiziell anerkannt. 2022 waren es 50 Jahre her.Eine Feier war geplant, die leider ausfallen musste.” Annette sagt offiziell, dass sie zuvor deutsche mit russischer Staatsbürgerschaft ist. Heute wird von Russlanddeutschen gesprochen.
Die Kaffeekanne ist fast leer. Es sind noch zwei Stück Kuchen übrig. Wir unterhalten uns schon eine ganze Weile. Aber ich habe noch eine Frage: „Was verbinder ihr mit Macht?“, frage ich dann laut. „Mit dem Alter verliert man ohnehin die Macht über alles. Man wird abhängig“, antwortet Annette. Nina muss an eine Situation denken, die viele Menschen in Berlin oder in Großstädten kennen: „Es ist eigentlich ganz banal! Ich denke an mein Mietverhältnis und die Tatsache, dass ich die Wohnung als Untermieterin verlassen musste, weil meine ehemalige Mitbewohnerin die Hauptmieterin war und klar wurde, dass es besser war, nicht zusammenzuleben. Aber ich denke zum Beispiel an die Machtkämpfe zwischen den großen reichen Staaten und den ärmeren Staaten“, sagt Nina und fügt hinzu „an das Pingpong, dass die reichen Staaten spielen, indem sie einander die Verantwortung zuschieben, unter anderem für die Klimakrise.“