đŸ‡Ș🇾 NAJWA & ANGELA

Salamanca, Februar 2022

Angekommen

Flamenco, Caliente und Paella… Herzlich willkommen in Spanien! Ich komme Mitte Februar 2022 auf der Plaza Major von Salamanca an und setze mich in eines der vielen CafĂ©s, bevor ich anfange, darĂŒber nachzudenken, wo ich die Nacht verbringen werde. Der Platz ist erstaunlich. Die dreistöckigen Barockfassaden, die sich rund um den Platz erstrecken, verstecken den Rest der Stadt. Ein perfektes Rechteck mit 88 Bögen, 247 Balkonen und 6 Eingangstoren, um zwischen den Stadtteilen zu navigieren. Auf dem Platz wimmelt es von Menschen, es ist ein stĂ€ndiges Gewusel. Aber alle Menschen um mich herum scheinen genau zu wissen, wofĂŒr sie hierher gekommen sind. Oft, um einen Kaffee in der Sonne zu trinken, Freunde unter der Turmuhr zu treffen oder um zu einem anderen Stadtteil zu gelangen. Diese Architektur ist eine wahre Entdeckung fĂŒr mich. Zwar war ich schon einmal in Spanien gewesen, aber die AtmosphĂ€re, die dieser Platz durch seine breiten Tore und einzelnen EingĂ€nge verbreitet, finde ich besonders schön. Ich bleibe einen Moment lang sitzen und beobachte, wie die Menschen an mir vorbeilaufen. 

Die Stadt und insbesondere der alte Stadtkern ist sehr klein, aber ĂŒberall sind fein gearbeitete Skulpturen und Ornamente in den Stein gemeißelt. Der helle Sandstein erinnert mich an die SandstrĂ€nde der Bretagne. Das schönste GebĂ€ude ist fĂŒr mich die alte Bibliothek. Von den Stufen der Kirche auf das ehrwĂŒrdige GebĂ€ude zu blicken, entspannt mich. In den Stein sind die von Santiago de Compostela bekannten Jakobsmuscheln eingelassen. Sie scheinen sich regelrecht an die Fassade zu klammern, um nicht auf den Boden zu fallen. Der Legende nach ist unter einer dieser Muscheln ein Schatz verborgen. Die Hauptattraktion der Stadt ist der Frosch an der Fassade der UniversitĂ€t. Wenn man das GlĂŒck hat, ihn zwischen all den vielen Details zu finden, bedeutet es der Legende nach fĂŒr Student*innen, dass sie die Klausuren erfolgreich abschließen werden. FĂŒr  Besucher*innen heißt es, dass sie in die Stadt zurĂŒckkommen werden. Mit ein wenig Hilfe habe ich den Frosch gefunden. 

Sehr bald lerne ich, dass Salamanca nicht viel von den spanischen Klischees zu bieten hat. Auf der Plaza essen ĂŒberwiegend Touristen Paella, die einzigen Flamenco-TĂ€nze, die man zu sehen bekommt, spielen sich bei den Puppen in den Vitrinen der TouristenlĂ€den ab und el calor… nun, el calor ist nicht da. Ich muss zugeben, dass ich mit meiner FrĂŒhlingsjacke ein bisschen friere. 

Ich verbringe zehn Tage in Salamanca, Valladolid und Madrid. Zuvor hatte ich mir keine Gedanken darĂŒber gemacht, wie ich in einer Stadt, in der ich kaum Leute kenne und die Sprache wie eine VierjĂ€hrige spreche, eine Abuela (Großmutter) und eine Nieta (Enkeltochter) finden sollte. Ich werde zur „Oma-JĂ€gerin“, wie mich ein Freund angefangen hat zu nennen. An einem Nachmittag gehe ich zum Waschsalon. Dort treffe ich eine Ă€ltere Frau mit ihrem Hund. Sie ist wahrscheinlich Anfang 70. Sie legt gerade ihre WĂ€sche zusammen und bietet mir einen Kaffee aus dem Kaffeeautomaten an. So kommen wir ins GesprĂ€ch. Sie spricht Spanisch und ich benutze Google Translate zur UnterstĂŒtzung. Cyndia und ihr Hund Buba leben eigentlich auf Mallorca und besuchen momentan ihre Enkelin, die in Salamanca studiert. Ich erzĂ€hlte ihr von meinem Projekt und von meiner Oma-Jagd in Spanien. Sie findet das Projekt interessant, ist sich aber nicht sicher, ob sie eine Geschichte zu erzĂ€hlen hĂ€tte. Ein paar Minuten spĂ€ter, kurz bevor ich gehe, wende ich mich noch einmal an sie und frage sie, ob wir Nummern austauschen können, falls sie doch Interesse hĂ€tte, mich bei meinem Projekt zu unterstĂŒtzen.  Ein paar Stunden spĂ€ter schrieb ich ihr eine Nachricht, habe aber nie eine Antwort darauf bekommen. Das Warten auf eine RĂŒckmeldung von ihr hat sich fast so angefĂŒhlt, als wĂŒrde ich total aufgeregt auf eine Nachricht von meinem Crush warten. In Spanien habe ich auf alle FĂ€lle mehr alten Frauen meine Nummer gegeben als Menschen auf Bumble [Dating-App]. Die Oma-Suche bleibt aber ein hartes Pflaster.

Letztendlich entschied ich mich dazu, zum Informationspunkt von Europa-Direkt zu gehen, um dort mein GlĂŒck zu versuchen und Kontakte zu potenziellen Interviewpartnerinnen zu finden. Dort habe ich mich lange mit den Mitarbeiterinnen ĂŒber die Rolle  der Franco-Diktatur im heutigen Spanien, die Frauenperspektive auf diese Zeit und vieles mehr unterhalten. Die drei Frauen sind sehr hilfreich und schicken einen Aufruf ĂŒber ihren Verteiler.

Kennenlernen

Najwa hat auf den Aufruf des Europa Direkts weniger als 24 Stunden spĂ€ter geantwortet. Najwa ist ein arabischer Name und bedeutet Dialog mit Gott. Sie betont, dass damit ein Dialog, ein Bekenntnis, aber kein Gebet gemeint ist. Ich denke, es ist kein Zufall, dass sie sich bei mir gemeldet hat. Es steht schon in ihrem Namen. Najwa ist halb Spanierin, halb Marokkanerin. Ihr Vater kommt aus Marrakesch und hat in Tanger studiert. Ihr Vater hat immer Spanisch mit ihr gesprochen, weswegen sie leider kein Arabisch spricht. In der Schule hat sie aber Französisch gelernt und ihre Cousinen wohnen in Paris. Das wird fĂŒr das Interview eine große Hilfe sein! Ich freue mich, dass sie sich im Laufe unseres GesprĂ€chs immer wieder versichert, dass ich die ErzĂ€hlungen auch verstehe, denn mein Spanisch ist doch sehr rudimentĂ€r.

Auf den ersten Blick sehen sich Najwa und ihre Großmutter Angela nicht besonders Ă€hnlich. Angela hat blonde, fast weiße, schulterlange Haare. Najwa hat lange lockige Haare, der rötliche Ton lĂ€sst eine Henna-FĂ€rbung erkennen. Sie hat große, fast schwarze Augen, mit schwarzem Kohl angemalt. Ihr Wintermantel bedeckt fast ihren ganzen Körper. Beide haben ein breites LĂ€cheln und ein lĂ€ngliches Gesicht. Najwa und Angela sind nicht nur Großmutter und Enkeltochter, sie sind auch Mitbewohnerinnen. Najwas Eltern wohnen zwar auch in Salamanca, aber weiter außerhalb der Stadt und damit weiter entfernt von der UniversitĂ€t. FĂŒr Najwa ist es angenehmer, bei ihrer Oma zu wohnen. Etwas ungewöhnlich fĂŒr ihre Generation, merkt auch Najwa an. Aber ihr gefĂ€llt es. Sie hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer Großmutter.

WĂ€hrend der Corona-Zeit lebte Najwa bei ihren Eltern. Das Schwierigste war fĂŒr sie, dass sie ihre Oma nicht sehen und sie in dieser Zeit nicht unterstĂŒtzen konnte. Najwa kann sich nicht vorstellen, wie diese Zeit gewesen wĂ€re, wenn sie nicht mit ihrer Oma ĂŒber WhatsApp oder Facebook hĂ€tte telefonieren können. Aber auch ihr Studentinnenleben wurde, wie das vieler anderer, auf den Kopf gestellt. Najwa studiert Pharmazie im vierten Jahr. Sie sitzt nicht nur im Hörsaal, sie muss eigentlich auch Tutorien machen. Doch durch Corona wurde alles anders. Salamanca ist eine sehr bekannte Studentenstadt, die UniversitĂ€t ist eine der Ă€ltesten Europas. Die Stadt wird geprĂ€gt vom Rhythmus der Studierenden. Es gibt eine unglaubliche Zahl an CafĂ©s, Restaurants und Bars fĂŒr die jungen Leute. Jeden Abend kann man irgendwo feiern gehen, besonders jetzt im Februar, denn das ist die Karnevalszeit. Ich sehe tĂ€glich hunderte Studierende, die verkleidet an der Plaza Major sitzen. Najwa geht nicht jeden Abend aus, sie muss sich auf ihr Studium konzentrieren. Aber sie mag die Stimmung der Stadt und ist am Wochenende gerne unterwegs – jetzt, da es wieder möglich ist. Das war fĂŒr sie wĂ€hrend Corona die grĂ¶ĂŸte Umstellung. In Salamanca findet vieles draußen statt. Sie hat frĂŒh morgens das Haus verlassen und ist abends wieder nach Hause gekommen. Ein großer Unterschied zum Lebensrhythmus ihrer Oma, als diese 22 Jahre alt war, erkennt Najwa.

Angela freut sich ĂŒber das Interview mit ihrer Enkelin, sie hat nicht gezögert zuzusagen. Ihr Teint ist frisch, sie ist leicht geschminkt, hat Lidschatten auf den Augen und etwas glĂ€nzenden Lippenstift aufgetragen. Sie trĂ€gt goldene Ohrringe: im vorderen Ohrloch kleine, hĂ€ngende Ringe und im hinteren Ohrloch einen goldenen Stein. Ganz im Trend der Zeit trĂ€gt sie weiße, fleckenlose Turnschuhe mit einer blauen Hose und einer weißen Bluse. Bis zu ihren FingernĂ€geln hat sie sich zurechtgemacht. Ich wĂŒrde fast behaupten, dass sich Angela fĂŒr das Interview extra schick gemacht hat. Sich zurechtmachen hat aber fĂŒr die Großmutter von Najwa eine ganz besondere Bedeutung. 

Angela ist 1950 geboren und war also 1972 ebenfalls 22 Jahre alt, sowie Najwa heute. Erst drei Jahre spĂ€ter, 1975, starb der spanische Diktator Francisco Franco. Damit endete die knapp 40 Jahre andauernde Diktatur. Angela erzĂ€hlt: „Als junge Frau war es sehr schwierig, quasi unmöglich, auszugehen. Frauen sollen um 9 Uhr, allerspĂ€testens um 10 Uhr zu Hause sein. Als Frau alleine ins CafĂ©, ins Kino zu gehen ist unvorstellbar. Besser ist es, mit einer mĂ€nnlichen Person unterwegs zu sein, mit dem Vater oder dem Bruder. Einen mĂ€nnlichen Freund auf der Straße zu begrĂŒĂŸen, ist undenkbar! Heute begrĂŒĂŸen sich ohne Probleme alle mit KĂŒsschen auf der Wange”, amĂŒsiert sich Angela. „Heute”, unterbricht Najwa, “kannst du dich mehrmals verlieben und in wen du willst!”

„Es herrschte insgesamt viel Angst im Land”, fĂŒhrt Angela in tiefem Ton fort. “Es gab viele necesidades”. Eine Stille herrscht zwischen uns fĂŒr ein paar Sekunden. Nur die amerikanische Popmusik im Hintergrund und die klingenden Tassen im CafĂ© sind zu hören. 

WĂ€hrend fĂŒr Najwa ohne Zweifel Corona das einschneidendste Ereignis in ihrem Leben war, welches plötzliche und  große Änderungen in ihrem Leben bewirkt hat, spricht Angela von dem 23. Februar 1981. Sechs Jahre nach dem Tod von Franco versuchen Teile des MilitĂ€rs und der Guardia Civil (Polizeieinheit) einen Putsch auf die junge Demokratie zu verĂŒben und wieder eine Diktatur zu errichten. Umgangssprachlich wird dieses Ereignis in Spanien als 23-F betitelt. Dieser Putschversuch findet in der Zeit statt, welche als “Transition” bezeichnet wird, die Übergangsphase von 1975 bis 1982. Angela erzĂ€hlt, dass sie den 23. Februar mit Beklemmung erlebte: „die Spanier und Spanierinnen hatten Angst vor einem erneuten BĂŒrgerkrieg, einer erneuten Diktatur. Wir wussten nicht, was kommen wĂŒrde, ob es gut oder schlecht wird.“

Angela schaut auf ihre mit Silberfarbe lackierten FingernĂ€geln und erzĂ€hlt weiter. „Nagellack
 Nagellack, war frĂŒher der grĂ¶ĂŸte Luxus fĂŒr mich. Heute bin ich verrĂŒckt danach und habe 30 oder 40 verschiedene Farben in meinem Regal.” Nachdenklich erinnert sie sich: „Als Kind wurde Nagellack in sehr großen Flaschen verkauft. Man hatte lediglich die Wahl zwischen rot, weiß oder rosa.” Der Nagellack wurde nur fĂŒr besondere AnlĂ€sse aufgetragen. Auch eine neue Strumpfhose kaufen, wenn die eigene kaputt gegangen war, kam nicht infrage. Die Strumpfhose wurde repariert und gestopft.

Angelas Vater war in ihrer Jugend sehr oft abwesend. Er hat in Deutschland fĂŒr vier oder fĂŒnf Jahre in der Textilindustrie gearbeitet und regelmĂ€ĂŸig Geld nach Spanien zu seiner Familie geschickt. Angela ist selbst noch nie nach Deutschland gereist. Damals wollte ihr Vater nicht, dass sie nach Deutschland kommt, denn dort war sein Leben prekĂ€r. „Er war ein Immigrant in Deutschland”, erklĂ€rt Angela, “er wollte nicht, dass wir dort hinkommen.” FĂŒr sie war es eine sehr traurige Zeit, fĂŒr ihren Vater auch. Einmal brachte er ihr Haarspray aus Deutschland mit. „Das war fĂŒr mich wie eine komplett neue Welt, erzĂ€hlte sie mit einem Leuchten in den Augen. -Damals sagte ich meinem Vater: Ich will auch nach Deutschland gehen. Es muss toll sein in Deutschland!”, sagte sie lachend in der Hostel-KĂŒche, wo wir das Interview aufnehmen. Doch nach Deutschland ist auch heute nie gereist. „Heute habe ich alles, außer das junge Alter.” Najwa stimmt ihr zu. „Ich kann heute alles haben. Wenn mir etwas gefĂ€llt, kaufe ich das.” Angela und Nawja sind sich einig: Heute fehlt es den Menschen an „illusiĂłn”, wie es im Spanischen heißt. „Materielle Dinge haben ihren sinnlichen Aspekt verloren”, bedauert Angela. Diesen Nagellack, dieses Kleid, auf das man sich tagelang, gar wochenlang freut, bevor man es bekommt. Solche Momente gibt es kaum noch. „Stimmt, die Aufregung ist verschwunden”, bemerkt ihre Enkeltochter.

Wir diskutieren weiter, Najwa ĂŒbersetzt mir vieles auf Französisch. Ich verstehe zwar die einzelnen Wörter, aber in so schnellem Tempo habe ich keine Zeit, die kompletten SĂ€tze zu ĂŒbersetzen. Ab und zu machen wir eine kurze Pause und Najwa und Angela erklĂ€ren mir einige Satzstrukturen, die dem Französischen Ă€hnlich sind, doch im Redefluss ergeben sie fĂŒr mich wenig Sinn. Mithilfe meiner bereits ĂŒbersetzten  und vorbereiteten Fragen lese ich sehr langsam die nĂ€chste vor: Woran denken Angela und Najwa, wenn man von Macht spricht? Angela ist fasziniert von Frida Kahlo. Wenn sie fĂŒr einen Tag lang Frida Kahlo sein könnte, wĂŒrde sie sich mĂ€chtig fĂŒhlen. „Es braucht mehr Frauen, die ihre Meinung sagen, findet Angela, “so wie Frida Kahlo eben!” FĂŒr Najwa sind wir, was Feminismus und Anerkennung betrifft, auf halber Strecke angekommen. Aber es gibt noch einiges zu tun. Es ist Ende Februar, bald ist der 8. MĂ€rz, der Frauentag. „HĂ€tten Frauen wirklich die Macht, die sie brauchen, um ihrer Stimme Verhör zu schaffen, brĂ€uchte man diesen Tag nicht.”

Najwa wĂŒnscht sich, nach ihrem Studium fĂŒr ein Praktikum nach Avignon oder Bordeaux zu gehen. Sie möchte ihr Französisch verbessern und Frankreich ein bisschen erkunden. Zu Europa hat Angela nicht viele Gedanken. Sie ist zufrieden hier, aber denkt nicht, dass Europa an sich dabei eine große Rolle gespielt hat. “Die Politik entscheidet, was gut fĂŒr die Menschen ist und wir sind wie Schafe.”, sagt Angela. Najwa erwidert: „Es gibt unglaublich viele extreme Menschengruppen in Spanien, die nicht mehr miteinander reden. Und sowieso, wenn es in Spanien gut geht, liegt es an Spanien. Wenn es aber schlecht geht, ist Europa schuld.”

Welche Welt wĂŒnscht sich Najwa fĂŒr die Zukunft? Die Vorteile von heute, aber die Familienwerte von frĂŒher, zum Beispiel durch die SelbstverstĂ€ndlichkeit mit anderen Generationen zu leben im Studium. Wie sie es mit ihrer Oma macht. Meine letzten Tage in Spanien verbringe ich in Madrid, ich muss an Najwa denken. In der Stadt hĂ€ngen unglaublich viele Poster, Banner und Flaggen fĂŒr den 8. MĂ€rz. An öffentlichen GebĂ€uden, aber ebenso an privaten Fassaden. Auch LGBTQIA+ Fahnen sind an vielen Ecken zu sehen! Ein ganz anderes Bild als in der Zeit von Angela. Welche Fahnen wohl dort hĂ€ngen werden, wenn Najwa so alt sein wird wie Angela

de_DEDE