🇮🇹 MICOL & LUCIA

Verona, Januar 2022

Einschalten

Zoom-Raum 752 5781 4100, Micol sitzt mit ihrer Großmutter Lucia am Wohnzimmertisch in Verona, im Nordosten Italiens. Lucia ohne Maske, Micol mit. Der analoge Raum im Hintergrund ist dunkel, nur ein Licht beleuchtet die Gesichter der beiden Frauen. Ich sitze am Flughafen in Lissabon, der sehr voll ist, da alle vom Familienbesuch und aus dem Urlaub wieder zurück in den Alltag fliegen. 

Erster Versuch für den Call – das Internet funktioniert nicht und meine Kopfhörer schirmen die Geräusche der Flughafenhalle nicht genügend ab. Neuer Versuch, neue Kopfhörer und neue Internetverbindung: Endlich, wir hören und sehen uns alle drei. Corona hat mal wieder alles anders entschieden, vor allem an diesem Weihnachten und Silvester 2021/2022. Kaum jemand ist drumherum gekommen, sich zu dieser Zeit mit dem Virus zu infizieren oder zumindest Kontaktperson von Infizierten gewesen zu sein. In jeder zweiten Instagram-Story ist eine Person zu sehen, die ihre Quarantäne mit einem Glas Wein, einer vollen Badewanne oder leckerem Essen im Zimmer ankündigt. Ein paar Wochen zuvor ist auch mein eigener Plan, nach Verona zu fahren, geplatzt – aufgrund der bekannten Omikron-Variante und ihren Auswirkungen. Deswegen sitze ich also nicht mit Micol und Lucia gemeinsam in ihrem Wohnzimmer in Italien, sondern in einer Flughafenhalle.

Micol und Lucia sind beide in Verona geboren – Micol 1994, ihre Großmutter 1938. Sie haben beide eine Zeit lang im Ausland studiert und fahren, wenn Schnee gefallen ist, aber auch im Sommer in die Alpen im Norden Italiens, die Dolomiten. Lucia und Micol entschieden sich für zwei unterschiedliche Länder für ihren Auslandsaufenthalt, deswegen ist das Interview ein Mischmasch aus Französisch, Deutsch und Italienisch. Meine Transkriptionssoftware erfindet bei der Ausarbeitung alle möglichen deutschen, französischen und italienischen Wortkombinationen.

Micol kenne ich aus Brüssel, dort arbeitet sie als Consultant im Bereich des freien Handels – was das genau bedeutet und was dahintersteckt, ist für viele ein Rätsel. Sie hat lange braune Haare, aber beim Interview am Montagmorgen – sie ist noch im Urlaub – trägt sie ihre Haare hochgesteckt zu einem Dutt. Ihre Augen haben eine intensive, braune Farbe. Sie trägt einen schlichten, roten Pullover. In Frankreich, genauer gesagt in Besançon, einer kleinen französischen Stadt in einer Industrieregion, nicht weit weg von den Peugeot-Fabriken, hat Micol im Bachelor ein Erasmus-Jahr verbracht. Ihren Master hat sie später in Paris gemacht. Sie spricht fließend Französisch. Wenn sie die französische Staatsbürgerschaft hätte, würde sie sofort für das Quai d’Orsay, das französische Außenministerium, arbeiten. Mit italienischer, nationaler Politik hat sie nicht mehr viel am Hut. Zu intransparent, zu viele komplexe Abläufe und vor allem zu wenige Änderungen. Jetzt steckt sie erstmal in Brüssel fest, nicht ihre Traumstadt, aber nach einigen Monaten, in denen Corona nicht die Ausgehmöglichkeiten diktiert, lebt sich Micol doch ganz gut ein. Corona bleibt aber für sie trotzdem ein bedeutender Moment in ihrem Leben. Plötzlich war alles anders: Es ging nur noch darum, einen Job zu finden. Keine Zeit, sich nochmal umzuschauen, zu gefährlich in einer Krisenzeit auf dem Arbeitsmarkt. Ihren Master hat sie – wie alle anderen – digital beendet und der einzige Trost als Ersatz zur Abschlussfeier war einige Monate später eine Goodie-Tasse von Science-Politik Paris.

Mit etwas bitterem Ton erzählt sie von ihrer Ankunft in Brüssel. Für ihre Arbeit muss sie eigentlich viele Menschen treffen und sich persönlich mit ihnen austauschen. Das ist etwas, auf das sie sich gefreut hatte. Aber nach mehreren Monaten finden die Treffen immer noch digital statt. Canapés, Wein und analoge Gespräche mit Partnern*innen und Kunden sind noch immer in weiter Ferne. Micol beschreibt ihr 27. Lebensjahr mit „pas génial”. Das fasst es gut zusammen: Zu wissen, wie viel Glück sie hatte, diese Arbeit zu finden, aber dennoch verlorenen Gelegenheiten nachtrauern. Micol sagt, sie habe eine Welt geerbt, auf die sie nicht vorbereitet war. Dennoch ist sie gespalten zwischen den Vorteilen, die sie als junge Frau im Vergleich zu ihrer Oma hat und den Desillusionen, die ihr Heimatland betreffen, das immer noch mit den Folgen der Krise 2008 zu kämpfen hat.  Corona hat ihr Erwachsenenleben am meisten geprägt, aber Micol erinnert sich beispielsweise auch an die Änderung der Währung in Italien, die zwar schiefgelaufen ist, aber für sie selbst später eher positive Auswirkungen hatte. Langfristig hat die EU ihr Leben geprägt und ihr die Möglichkeit gegeben, in zwei Ländern für längere Zeit leben zu können.

Lucia habe ich nur ĂĽber den Zoom-Bildschirm kennengelernt. Sie könnte sehr groĂź und im Alter nicht geschrumpft sein, das sehe ich nicht genau. Sicher ist: Lucia hat volle und weiĂźe Haare, kurz geschnitten. Hinter ihrer groĂźen roten Brille verstecken sich runde, braune Augen. Lucia ist sehr konzentriert. Sie hat sich nämlich fĂĽr das Gespräch auf Deutsch vorbereitet. Immer wieder während des Interviews schaut sie auf ihre Notizen. Ich bin sehr beeindruckt! Lucia hat sich in den 1960er-Jahren fĂĽr Deutschland entschieden und ist zum Studieren fĂĽr ein paar Monate nach TĂĽbingen gegangen. Von Verona ist das deutschsprachige SĂĽdtirol nur ein paar Kilometer entfernt. Die Schweiz, Ă–sterreich und Deutschland liegen ebenfalls in der Nähe. Direkt vor der HaustĂĽr waren in ihrer Kindheit vor allem die Nazis. Viele Erinnerungen von der Kriegszeit hat Lucia nicht mehr. Sie erinnert sich, dass sie von der kleinen Stadt Rovigo, wo ihr Vater arbeitete, ins Dorf gezogen sind, weil Bombenangriffe in Rovigo das Leben erschwert hatten. Die letzten sechs Monate des Krieges haben sie in einem Bauernhof mit 19 anderen Familien verbracht, nur fĂĽnf Kilometer von der Gotenstellung entfernt. Die Gotenstellung, auch grĂĽne Linie genannt, ist die Demarkationslinie, die sich von Massa-Carrara bis Pesaro erstreckte. Im Norden der Stellung waren im Jahr 1944 die deutschen Truppen positioniert und im SĂĽden die amerikanischen und britischen Alliierten. Die härtesten Kämpfe fanden dort im Sommer und Herbst 1944 statt. Als der Krieg vorbei war, war Lucia erst sieben Jahre alt. „Aber Alpträume vom Krieg hattest du bis 30 Jahren“ , erinnert sich Micol aus den Erzählungen ihrer GroĂźmutter. Das wischt Lucia mit einer Handbewegung beiseite.

An dieser Stelle wiederhole ich: “Wenn es Fragen gibt, die Sie nicht beantworten möchten, weil sie ein Trigger sein könnten, ist das kein Problem”. Darauf reagiert Lucia auf Deutsch mit „Ich bin noch am Leben, also kann ich erzählen!” 

20 Jahre später, mit 27, ist es für sie eine „Gute Zeit. Fast alles war endlich vorbei, es gab Arbeit und man konnte gut essen”, sagt Lucia. In diesem Jahr bekommt sie ihr erstes Kind, die Mutter von Micol, und unterrichtet Deutsch an einer Schule, von der sie sich für die Geburt und die Zeit danach vier Monate freinimmt. Nach einer gewissen Zeit wird es etwas anstrengend für die heute 84-Jährige, alles auf Deutsch wiederzugeben. Manchmal dreht sie sich zu Micol und beide Frauen tauschen ein paar Wörter auf Italienisch aus, die mir Micol dann auf Französisch oder Englisch übersetzt. Von ihrer Reise nach Deutschland erzählt Lucia noch auf Deutsch, bevor sie eine kleine Redepause einlegt.

Eintauchen

In den 1960er-Jahren hatte es eine ganz andere Bedeutung, für eine Frau allein ins Ausland zu reisen – besonders im Vergleich zu der Zeit, als Micol nach Paris ging. Deutsch hatte Lucia bereits vier Jahre lang an der Universität studiert, bevor ihr Vater ihr erlaubte, einen Auslandsaufenthalt in Deutschland zu machen. Sie hatte Glück, dass ihre Eltern sie überhaupt gehen ließen. Eine große Rolle hat dabei gespielt, dass ihr der Schwesternorden von Verona, den der Vater kannte, den Kontakt nach Deutschland vermitteln konnte. Im Studentinnenhaus von Tübingen war für den Sommer noch ein Platz frei, den Lucia haben konnte. Lucias Eltern begleiteten sie ins Schwabenland. „Es war wichtig für meine Eltern zu sehen, wo ich genau hinging“, erinnert sich Lucia. Als sie damals im Juli in Tübingen ankam, waren die Studentinnen noch bis zu den Ferien in dem Haus, weshalb sie zwei Wochen in einem Altersheim verbrachte, bis ihr Zimmer frei wurde. Im Altersheim war Lucia etwas verzweifelt – alle älteren Damen sprachen ein komisches Deutsch, das sie nicht verstehen konnte. Sie haben zwei Wochen lang Schwäbisch geschwätzt. Im Studentinnenhaus fühlte sich Lucia wohl, sie schloss Freundschaften mit Frauen, die aus Halle (Saale) kamen und sehr geduldig mit ihr Deutsch übten. Das Jahr danach fuhr Lucia nochmal nach Deutschland. Eigentlich wäre sie gerne in Deutschland geblieben. „Im Kopf bin ich Deutsche“, erzählt sie ihrer Enkelin und mir. Aber sie hatte zwischen den Aufenthalten in Deutschland ihren zukünftigen Mann in Italien kennengelernt und ging zurück, um ihn zu heiraten.

Lucia blieb noch lange mit Deutschland verbunden. Sie hat Gruppenaustausche zwischen München und Verona begleitet, für die Übersetzung gesorgt und viele Schüler*innen und Lehrer*innen in Verona empfangen. In den letzten Jahren ihres Arbeitslebens fiel ihr auf, dass die Schüler*innen vermehrt Interesse an der Sprache, Kultur und Begegnung insgesamt hatten. Ob die Partnerschaft heute weitergeführt wird, weiß sie nicht. Gerne hätte Lucia in der Zeit von Micol gelebt, um auch ihre eigene „Erasmus-Erfahrung“ machen zu können.

„Lucia hat ja auch einen Auslandsaufenthalt machen können“, überlege ich.  „Was unterscheidet Ihre Erfahrung von deiner Micol?“, frage ich nun laut. „Dass ein Auslandsaufenthalt mittlerweile normal und einfacher umzusetzen ist“, antwortet mir Micol. Heute ist es quasi zur Pflicht geworden, sich international zu bilden. Es wird von jungen Menschen erwartet.

Ich erinnere mich dennoch an eine Diskussion, die ich mit Micol ein paar Wochen zuvor hatte, bei der wir uns beide über die Schwierigkeiten beschwert haben, die wir bei der Vor- und Nachbereitung von unserem Erasmus-Jahr hatten. Die Ungewissheit, ob die Universitäten alle Leistungen anerkennen werden, das Stipendium, das knapp zum Leben reicht, das Chaos, als Micol in Frankreich nicht wusste, an welchem Tag die Universität anfängt. Und vor allem die Jagd nach Unterschriften an unterschiedlichen Stellen. Aber auch, wenn ihre Erasmus-Erfahrung viele Nerven gekostet hat und sie das Glück hatte, eine französische Klausur im „Droit d’affaires International“ ohne Lexikon zu schreiben, spricht sie gerne über diese Zeit. In dem Augenblick läuft der Großvater hinter der Kamera vorbei, schaut mit einem kurzen Blick zu uns, geht aber weiter.

Wir führen unser Gespräch fort. Wie blicken Lucia und Micol in die Zukunft? Für Lucia gibt es trotz ihres schon langen Lebens kein nennenswertes Ereignis von früher,  was sie stark beschäftigt. Sie setzt sich vor allem mit der Klimakrise auseinander. Lucia sagt, das Bewusstsein sei so plötzlich gekommen, obwohl es seit Jahrzehnten bereits bekannt ist. Ich frage beide zum Schluss, ob Frauen heutzutage mehr Macht haben. Lucia sagt: „Ich möchte die Zeit sehen, wo auch die Frauen Macht haben. Damals gab es noch keine Frauen an der Macht und ich warte noch immer.“ In Italien sind zum Beispiel 25 Personen an der Spitze der Regierung – davon allerdings nur acht Frauen. Micol redet weiter für sie beide, damit ihre Großmutter sich ausruhen kann. Lucia und Micol sind beide eher pessimistisch eingestellt und bezweifeln, dass Frauen jemals ohne Wenn und Aber in Machtpositionen kommen können.

Ein zweites Mal läuft der Opa an der Kamera vorbei, diesmal hält er auch kurz an und läuft auf die Kamera zu, mit einem interessierten Blick. Einmal Hallo sagen möchte er schon. Micol und ihre Großeltern tauschen kurz ein paar Sätze auf Italienisch aus, lachen etwas und dann drehen sich beide Frauen wieder zur Kamera. 

Am Ende des Interviews, nachdem Lucia eine Zeit lang still war, fällt ihreine Geschichte ein,  die sie teilen möchte. Als sie während des Krieges im Bauernhof lebten, sah ihre Mutter zwei deutsche Soldaten in der Speisekammer, sie waren vermutlich Deserteure. Sobald Lucias Mutter den Mut aufgebracht hatte, in die Kammer zu laufen, um das Essen fĂĽr die Kinder vorzubereiten, standen die deutschen Soldaten sofort auf. Die Mutter sprach mit den Soldaten etwas auf deutsch. Später bat sie ihnen etwas zu Essen an. Nach kurzer Zeit verschwindeten die beiden Soldaten wieder. Lucia erzählt heute verwundert, “Wir hatten schlecht versteckten Fahrräder, das wertvollste in diesem Bauernhof und trotzdem haben die Soldaten diese nicht mitgenommen.” RĂĽckblickend ist Lucia sehr dankbar: „Ein GlĂĽck, dass meine Mutter Deutsch konnte. Sie hat uns Kinder nie die Angst spĂĽren lassen.“ 

Nach etwa einer Stunde digitaler Diskussion schaut Micol auf ihre Uhr. Es ist Mittagszeit, jetzt wird der Tisch gedeckt. Mit einem Klick ist das Interview zu Ende. Ich brauche ein paar Minuten, um mich wieder an den Lärm der Flughafenhalle zu gewöhnen und meine Gedanken zu sortieren. Im Kopf habe ich noch die kleine Stadt Verona, nicht weit von den Alpen und zwei Frauen, die dort geboren und doch sehr verschieden aufgewachsen sind.

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